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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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erfrischend in der Dauersuppe aus Weizengelb und glitzerndem Hafer. Am Weg gelbe Sternchen, dazwischen purpurfarbene Nelken, ängstlich an den Boden geschmiegt. Ich bin glücklich. Ich forsche in meinem Körper nach verborgenen Lasten und hole sie herauf. Ängste, Wut, Schmerz und Trauer geben ihre Kraft frei. Jede Zone kennt ihr Thema, singt ihr eigenes Lied. Hierlassen, abwerfen, weitergehen. Meine Mutter ist da - ich sonne mich im Lied ihrer Freude bei meiner Ankunft. Ich wiege mein Kind und freue mich. Bilder in leuchtenden Farben tauchen auf. Ich fühle mich unendlich wohl, das Alleinsein, die Weite, die Freunde vor mir, Mary hinter mir. So vergeht Stunde um Stunde. Eine kurze Rast, noch ist es nicht heiß. Der Wasservorrat wird reichen. Die Gegend wird welliger, wir begegnen der Bahnlinie, ein rotweißer Pavillon - das war die Bahnstation von Villamarca. Dann eine Talsenke mit dem im Führer verheißenen Fluss. Kleider weg und hinein ins Wasser. Mary kommt. Ali trägt ihr Gepäck hinüber - ein Christophorus aus Marokko an einem Fluss in Nordspanien für das Gepäck einer Australierin im Beisein zweier Deutscher. Wo bin ich, was geht hier vor? - Langsam gehe ich hinter den anderen her und stehe plötzlich vor Reliegos.
    Nicola und ich sitzen im Schatten eines Baumes, wir reden und reden, einander in tiefem Verstehen zugetan. »Pass auf«, sage ich zu Mary ein wenig später, »wenn es so weitergeht, fliege ich bald nach Santiago. Meine Füße sind sowieso schon da.«
    Inzwischen schüttet es wie aus Kübeln, die Hospitalera schließt die Fenster. Im Aufenthaltsraum herrscht Leben. »Ich komme aus Weimar und bin seit dreieinhalb Monaten unterwegs«, sagt ein junger Mann, »und immer noch ist jeder Tag neu. Ich lerne und lerne und werde nie auslernen. Du triffst Leute, unglaublich, gerade da, wo du es nie erwartest, und der erste Eindruck trügt immer!« - »Der richtige Pilger reist ohne Geld, ohne Scheckkarte, wie Franz von Assisi«, erklärt ein anderer. »Entweder Geld oder Gott. Ich bin auf der Seite Gottes.« - »Es gibt auch andere Formen von Pilgerschaft«, wende ich ein. »Nein«, sagt der Mann, »Geld oder Gott.« Seine Augen stieren auf eine leere Weinflasche. Pilger oder Vagabund? Ich entferne mich.
    Auf einem Tisch liegt ein Buch, ich nehme es in die Hand und blättere in ihm, denke, es sei das Herbergsbuch. Robert, ein junger Deutscher kommt auf mich zu: »Das ist mein Tagebuch.« Ich gebe es ihm und entschuldige mich. »Macht nichts. Sieh, diese Zeichnung kannst du dir gern anschauen«, sagt er und schlägt eine Seite auf, »ich habe sie zusammen mit Claudia gezeichnet.« Er erklärt mir das Bild. In einer Sprechblase ist zu lesen: >Wo ist der Himmel? <, fragte die Katze. >Er ist im Herzen<, sagte der Mann. Zwischen Robert, Claudia und mir entspinnt sich ein angeregtes Gespräch. »Was machst du in deinem beruflichen Leben?«, wollen sie von mir wissen. »Ich bin hier, das ist im Augenblick meine Arbeit und mein Traum. Ich schreibe.« - »Vergiss das Herz nicht, es ist das Wichtigste von allem«, sagt Claudia. »Und wie ist es mit dem Denken«, frage ich, »man kann doch auch mit dem Herzen denken?« - »Nur das ist das Richtige...«, sagt Robert.
     

Reliegos - San Miguel de Escalada – León
    Sonntag, 13. Juli
     
    »Schau mal«, sagt Mary, »hier in der Nähe gibt es eine mozarabische Kirche aus dem 10. Jahrhundert, die würde mich interessieren. Aber sie liegt fünfzehn Kilometer von der Hauptroute entfernt.« San Miguel de Escalada. Etwas kommt mir bekannt vor, Erinnerungen an das Studium, ein Foto aus einem Bildband? Ich weiß es nicht, aber etwas ruft und ruft. »Mary, ich werde gerufen, ich muss nach San Miguel. Busse fahren heute nicht, ich werde versuchen, zu dieser Kirche per Autostopp zu gelangen. Vielleicht sehen wir uns heute Abend in der Herberge in León wieder - mal sehen, was geschieht.« - »Ha«, sagt sie, »vermutlich bist du vor mir da. Auf jeden Fall gehe ich nicht in die Jugendherberge, sondern in die Herberge der Benediktinerinnen in der Altstadt.« Wir trennen uns.
    Kurz hinter Mansilla de las Mulas die Abzweigung nach San Miguel. Es ist sehr heiß, ich gehe an der Straße entlang zum nächsten Dorf. Ein Bauer gibt mir frisches Wasser. Ich trete auf die Straße hinaus, hebe den Daumen. Ein Auto hält, fünf Minuten später stehe ich vor der Kirche. Der Fahrer des Autos ist Barbesitzer gegenüber der Kirche und hat gerade fünf Kilogramm Eiswürfel geholt, weil die

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