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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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Eismaschine ausgefallen ist.
    San Miguel de Escalada. Grazie, Harmonie, menschliches Maß... Ich trete ein. Die Kirche empfängt mich, als wäre ich von langer Hand erwartet. Sie erfasst mich, sie ergreift mich, und es ist mir, als würde ein Mantel aus Feuer um mich geschlagen. Feuer - Michael der Drachentöter. Ich beginne zu singen, der leere Raum füllt sich mit meinem Gesang. Im Westen des Schiffes lege ich meine Matte auf den Boden. Kniend, hockend und sitzend nähere ich mich mit meiner Matte langsam dem Altar im Chor. Als ich beim Allerheiligsten angelangt bin, wird mir mein Schwert zurückgegeben, meine Kraft, mein Wille. Und alles, was ihm im Weg steht, verbrennt; die tausend Missachtungen meines Lebens, die Kränkungen, die Demütigungen - ich packe sie aus, halte sie in das Feuer, das Feuer verzehrt sie. Es ist, wie wenn der Druck, der sich über Jahre in den Untergründen meiner Seele aufgestaut hat, nun ein Ventil gefunden habe. Menschen kommen in die Kirche, ich sehe sie nicht, ich höre sie nicht. Sie nehmen Rücksicht auf die, die da sitzt und kniet und hockt. Die Zeit verrinnt.
     
    Ich halte mein Schwert in der Hand und stemme mich gegen den Wind. Wolken klirren, Felsen splittern, Blitze zucken und Kanonen donnern. Ich gehe meinen Weg und ziehe eine Spur hinter mir her. Die Spur meiner Siege, die Spur meiner Niederlagen, die Spur meiner Schmerzen. Hindernisse sind vor mir aufgetürmt und mein Herz weint. Ich gehe und setze den Stab. Der Wind kommt von vorn, er pocht an die Tür. Ich öffne sie. Es rumpelt und rüttelt, Geröll rutscht, Steine rollen - tief sind die Täler, und hoch über ihnen thront der König der Welt.
     
    Als ich aus der Kirche trete, gegürtet, gestärkt und mit meinem mir von jeher zugedachten Schwert versehen, empfängt mich gleißendes Licht. Ich gehe, mit dem Rucksack schwer bepackt, in die Mittagshitze hinaus, steige hinab in die Ebene, wandere zwischen den Maisfeldern hindurch immer tiefer hinab. Es ist fast 3 Uhr, am Himmel ballen sich Wolken. Aber es ist vorgesorgt - um 4 Uhr setzt mich ein blaumetallisch funkelndes Auto vor der Herberge der Benediktinerinnen in León ab. Eine Stunde später klopft Mary an die Tür meines Doppelzimmers.
     

León
    Montag, 14. Juli
     
    Am Montagmorgen verabschieden wir uns endgültig voneinander, Mary und ich. »Wir könnten doch einmal zusammen wandern, in den Pyrenäen zum Beispiel«, schlage ich vor. »Erst, wenn du die Alhambra in Granada gesehen hast«, sagt sie, und ich: »Erst, wenn du San Miguel de Escalada gesehen hast!« Sie lacht und geht, meine Freundin Mary.
    Wie benommen gehe ich durch die engen Gassen der Altstadt. Das Museum im Kloster San Isidor besuche ich, sehe die wunderbaren Fresken im Pantheon der Könige, sitze in der Kirche, die Menschen um mich herum sind in ihre Gebete versunken. Aber ich halte es drinnen nicht aus, die Luft ist stickig, ich muss raus, mir ist elend. Es zieht und lockt - die Kathedrale. Immer wieder streife ich durch die engen Gassen zu ihr, dann stehe ich auf dem Platz vor dem Westportal, betrete ihr Inneres...
    Schön ist sie und groß, zu groß, als dass man sie begreifen könnte. Der Fokus erschließt immer nur Einzelheiten. Aber warum nur haben die Architekten späterer Jahrhunderte auf die gotische Struktur so wenig Rücksicht genommen und mir mit einem trotzigen Chorgestühl den Blick vom Westen in den Chor versperrt, noch dazu seine Gitter mit spiegelndem Glas versehen? Warum nur haben sie Kapellen an die Seitenschiffe angebaut und mit riesigen Bildern, Skulpturen und Altären zugestellt? Kirchen sind wie lebendige Organismen, die sich durch die Zeiten ändern, ja. So hat das farbige Licht, das durch die wunderbaren Glasfenster im Obergaden hereinleuchtet, keine Chance, mich hier unten zu erfreuen. Alles ist mit Kunstlicht hell angestrahlt. Heute Morgen stört mich dies alles, also schließe ich mich dem Strom der Besucher an und drehe mein Runden, durch die Seitenschiffe und das Querhaus in den Chorumgang und
    zurück zum Westportal. Und siehe da! Im Gehen und Schauen erschließt sich der Raum. Nun ziehen die Verglasungen der Chorgitter meinen Blick auf sich. Ich folge ihren Verlockungen und tauche ein in das Spiel der Spiegelungen. Alles spiegelt sich in ihnen, die Rosetten in der Höhe, die Obergadenfenster; es spiegelt sich das Spiegeln, es spiegeln sich die Rosetten in den Rosetten und die Fenster in den Fenstern, die Fenster in den Rosetten und die Rosetten in den Fenstern -

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