In Santiago sehen wir uns wieder
Ginster und Fingerhut. In Foncebadón sehe ich die Bescherung: Meine Hose ist mit schwarzer Kettenschmiere verschmutzt. Ein Fahrradfahrer hat die Büsche >präpariert<. Ausgerechnet heute, und nur heute, habe ich zum Wandern meine Sonntagshose an. »Hat alles einen Sinn, würde deine Schwester sagen«, sagt Amanda. »Dein Wort in Gottes Ohr! Sag mir, wo ich hier eine chemische Reinigung finde. Aber sieh mal, die Frau da oben an dem Geländer schaut uns so freundlich an, vielleicht hat sie eine gute Idee.« Schon sitze ich in der neuen Herberge, die Hospitalera bietet mir Kaffee an. Herzlichkeit, ein liebes Gesicht - die Spannung löst sich, Tränen rollen. »Ich verstehe«, sagt sie, »ich bin auch gepilgert.« Dieses Gesicht kenne ich, denke ich, diese Augen. Es ist Reine, wie sie leibt und lebt, Reine, meine geliebte Freundin in Beaulieu. Warmherzige und bedingungslose Annahme meiner Person - das konnte nur Reine - und nun diese Frau!
Die wiederaufgebaute Kirche von Foncebadón, einfach und schlicht ist sie. Ich spüre den Kraftstrom, den ich in früheren Kirchen wahrgenommen habe. Stärker ist er geworden, etwas öffnet eine Tür und sagt: >Auch du hast eine Mission<
»Was machen wir jetzt mit deiner Hose, Bella?« - »Kommt Zeit, kommt Reinigung. Wird schon klappen.« Ich klettere vollends die Höhe hinauf. Hoch ragt das »Cruz de Ferro« inmitten eines Berges von Steinen, die die Pilger seit Jahrhunderten hier niederlegen, als Zeichen dafür, dass sie Lasten dalassen. Inschriften stehen auf den Steinen, Bilder sind in den Stamm des Kreuzes geritzt, Namen, Fotos von geliebten Verstorbenen, Gebete... Lange stehe ich da oben und schaue zurück in die weite Ebene, durch die ich gekommen bin. Es ist mir, als löse sich die Vergangenheit auf, alles ist fern und vergessen, auch der Weg mit seinem Beginn. Auf der anderen Seite, im Westen, weiß ich hinter der hügeligen Hochfläche die Zukunft verborgen, das Neue, Santiago, aber bis dahin...
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Salvatore aus Venezuela hat mich die ganze Zeit über beobachtet, am Fuß des Hügels im Schatten einer Kiefer sitzend. »Spürst du die Energie dieses Ortes?« fragt er, als ich mich neben ihm niederlasse. »Sie berührt mich. Das Kreuz steht an einem besonderen Platz, er soll uralt sein.« - »Mir scheint, dass hier alle Plätze alt sind«, sage ich, »viel älter, als auf dem Camino Pilger gehen.« - »Ich gehe den Jakobsweg nun zum dritten Mal und gewinne immer mehr den Eindruck, als ob er ein besonderes Geheimnis berge. Aber welches?« Die vielen Bilder, die in mir aufgestiegen sind, die Emotionen, der Strom unter dem Strom, die Kraftquellen in den Kirchen... »Ich glaube, der Weg hat etwas mit Reinigung und Heilung zu tun«, sage ich. Salvatore: »Reinigung und Heilung sind Stufen, die derjenige durchlaufen muß, der sich auf den Pfad der Entwicklung und der Einweihung begeben hat. Am Ziel steht der Tod.« - »Der Tod?« - »Ja, allerdings der Tod des niederen Egos. Erst wenn der Suchende das Gewand der beschränkten Persönlichkeit abgelegt hat, kann er sich mit seinem Höheren Selbst verbinden, findet er Erfüllung.« - »Dies erinnert mich an die Mysterien der Antike und an die Gedanken großer spiritueller Lehrer.« - »Mag sein, ich habe mich viel mit diesen Dingen befasst.« - »Du meinst also, Salvatore, der Camino könnte etwas mit diesen Traditionen zu tun haben?« - »Vermutlich, aber ich weiß noch nicht, was.«
Wir brechen auf. Es ist Nachmittag, die Sonne scheint uns ins Gesicht. Schweigend gehen wir nebeneinander her, dann sagt Salvatore: »Manchmal komme ich mir vor wie im Märchen. Der Held verlässt sein Elternhaus, um eine Prinzessin zu suchen.« - »Oho«, werfe ich ein, »du suchst eine Frau auf dem Jakobsweg? Das tun andere auch.« — »Ach Bella, du weißt genau, was ich meine. Der Prinz im Märchen steht doch für denjenigen Menschen, der sich zur reifen Persönlichkeit entfalten möchte.« - »Klar, und auf diesem Weg muss er Gefahren trotzen und Prüfungen bestehen.« - »Aber wenn er sein Ziel erreicht, die Prinzessin findet und sie befreit, darf er sie heiraten, und wenn sie nicht gestorben sind...« - »Die Hochzeit mit der geliebten Frau bedeutet, dass er zu seiner innersten Identität gefunden hat.« Amanda in meiner Pilgermuschel wird unruhig, leise flüstert sie mir ins Ohr: »Bella, oft begegnet ihm das Wunderbare, Schnecken zum Beispiel.« Ich muss lachen. Als mich Salvatore fragend anschaut, sage ich: »Vergiss nicht die
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