In seinem Bann
erstaunt, um ehrlich zu sein.«
»Es freut mich zu hören, dass es mir hin und wieder gelingt, dich zu überraschen, Ann-Sophie. Und jetzt sollten wir uns beeilen, wenn wir die Karlsbrücke noch in den letzten Strahlen der Abendsonne sehen wollen.«
Ich schlüpfte in mein hellbraunes Retro-Sommerkleid von Marc Jacobs mit den weißen Punkten, dessen Fifties-Silhouette in meinen Augen am besten kaschierte, dass ich keinen BH trug.
Dennoch war es ein eigenartiges Gefühl, den Stoff des Kleides direkt an meinen Brüsten zu spüren und noch komischer kam es mir vor, untenherum nackt auf die Straße zu gehen.
»Du siehst wundervoll aus«, erklärte Ian, als ich mir zum Kleid passend einen einfachen Pferdeschwanz band.
Kapitel 6
»Brauchen Sie einen Fahrer, Sir?« erkundigte sich Aneta an der Rezeption. »Oder soll ich den Jaguar aus der Garage holen lassen?«
»Nein, nicht nötig, Aneta. Wir werden heute Abend zu Fuß gehen«, erklärte Ian und reichte mir seinen Arm, damit ich mich unterhaken konnte.
Es war ein lauer Sommerabend und die engen Altstadtgassen mit ihren hohen Häuserzeilen hatten die Wärme des Tages gespeichert. Trotz meines nicht ganz flachen Schuhwerks führte mich Ian sicher über das Kopfsteinpflaster und so konnte ich mich statt auf die Unebenheiten zu meinen Füßen ganz auf die herrlichen Fassaden konzentrieren. Wir bummelten an Schaufenstern von Juwelieren, Kristallhändlern und Marionettengeschäften vorbei und durchquerten einige der typischen Prager Altstadt-Passagen. Und dann standen wir plötzlich auf dem Altstädter Ring, dem berühmten Marktplatz im Herzen der Stadt mit seinen eleganten Palais und stattlichen Bürgerhäusern. Wir spazierten vorbei an der Teyn-Kirche mit ihren imposanten gotischen Türmen und der Statue des Reformers Jan Hus, ehe wir uns dem Rathaus mit seiner weltbekannten astronomischen Uhr aus dem 15. Jahrhundert zuwandten.
»Die Legende besagt, dass man den Konstrukteur nach Abschluss seiner Tätigkeit an dieser Uhr geblendet hat, damit er seine brillanten Künste nicht noch einem anderen Dienstherren in einer anderen Stadt anbieten konnte«, erklärte Ian.
»Was für ein grausames Schicksal«, murmelte ich mit Blick auf die prachtvolle spätgotische Einfassung, die komplizierte Uhrenscheibe und die Kalenderscheibe mit ihren kunstvoll ausgearbeiteten Tierkreiszeichen.
Dann wandten wir uns wieder zur Karlova, die uns hinunter zur Moldau führen sollte.
»Welches war der grausamste Film, den du je gesehen hast?« fragte Ian plötzlich.
»Wie kommst du denn jetzt darauf?« fragte ich verblüfft.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich Dinge von dir erfahren möchte, die nicht in deinem Lebenslauf stehen und das Stichwort grausam hast du mir soeben geliefert.«
»Also gut. Nicht unbedingt grausam aber wirklich schockierend fand ich Nicolas Roegs Adaption von Wenn die Gondeln Trauer tragen . Aber das liegt vielleicht daran, dass ich noch viel zu jung war, als ich ihn gesehen habe. Nachhaltig verstörend und tatsächlich grausam fand ich Tod Brownings Freaks .«
»Ja, das ist er in der Tat. Und was ist mit Ein andalusischer Hund ?«
»Ist das die Standartantwort von Kunsthistorikern auf diese Frage?«
»Ich kenne die Standartantwort von Kunsthistorikern nicht. Du bist die Erste, der ich diese Frage stelle.«
»Nun, in diesen Dingen bin ich nicht sehr zart besaitet. Die Szene mit dem zerschnittenen Auge, auf die du sicherlich hinaus willst, finde ich nicht so schrecklich. Ich kann mir auch die Blut- und Sexaktionen der Wiener Aktionisten ansehen, ohne mich zu erbrechen.«
Ian grinste.
»Welche Lektüre hat dich am allermeisten geprägt?«
»Mhm, das ist eine schwierige Frage. Lange Zeit war das, glaube ich, Der Steppenwolf von Hermann Hesse. Später kamen dann viele Bücher, die mir in bestimmten Phasen viel bedeutet haben.«
»Und welches Buch versteckst du in zweiter Reihe ganz hinten im Regal?«
»Wird das ein Verhör, Ian?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Und natürlich musst du auch nicht antworten, wenn du nicht willst.«
»Nein, schon gut. Ich habe tatsächlich ein paar Bücher, die hinter Vasen und Bilderrahmen im Regal stehen. Eines, das dich erfreuen dürfte, ist ein dicker Band mit den Gesammelten Werken des Marquis de Sade , den ich mir zu Recherchezwecken angeschafft habe und dessen plakatives Cover mit dem fetten Schriftzug mir in der Tat unangenehm ist.«
»Hast du es gelesen?«
»Natürlich. Ich sagte doch,
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