In seinem Bann
Zügen und auch Ian, dessen rechter Arm lässig auf der Türkante lehnte und unter dessen großer Tom-Ford-Sonnenbrille ein breites Lächeln zu erkennen war, schien die Spritztour sichtlich Spaß zu machen.
»Wozu braucht dein Hotel eigentlich solche Autos?« fragte ich und strich mit der Hand über die hochglanzpolierten Armaturen des Oldtimers.
»Für besondere Anlässe. Meine Hotels bieten unseren Gästen einen Limousinenservice und ab und zu sind Brautpaare oder exzentrische Musiker und Schauspieler dabei, die Wert auf den besonderen Auftritt legen.«
Ian parkte den Jaguar am Grand Reed, vis-à-vis des Rudolfinums, wo sich ein Page des Wagens annahm.
Es waren nur ein paar Schritte hinüber zu dem beeindruckenden Neorenaissance-Bau mit seiner gerundeten Fassadengestaltung und der herrschaftlichen Freitreppe.
Neben den berühmten Konzertsälen beherbergte das Rudolfinum mit der Galerie Rudolfinum die wohl bedeutendsten staatlichen Ausstellungsräume für moderne und zeitgenössische Kunst in Tschechien und stellte in regelmäßigen Abständen herausragende Einzel- und Gruppenausstellungen auf die Beine.
Der Titel der aktuellen Schau lautete The Forbidden Gaze und versammelte Arbeiten der modernen und zeitgenössischen Kunst zu den Themen Privatheit, Intimität und Voyeurismus im Sinne des verbotenen Blicks durchs Schlüsselloch.
Schon im ersten Saal wurden wir mit Marcel Duchamps Étant Donnés von einem ikonenhaften Werk des 20. Jahrhunderts in Empfang genommen. Auf den ersten Blick ein wenig spektakuläreres Raumobjekt, bestehend aus einer alten Holztür, einer Ziegelmauer als Rahmen und einem schwarz verhängten hinteren Teil, offenbarte sich das eigentliche Kunstwerk erst beim Spähen durch eines der Gucklöcher in der Brettertür. Wie bei einer Peepshow wurde der Besucher Zeuge einer erotischen, wenn auch äußerst befremdlichen Szene. Ein nackter Frauenkörper lag dort mit weitgespreizten Beinen, dreidimensional aus Gips gefertigt, auf einer Art Wiese vor einem idyllischen Wasserfall mit einer nostalgischen Gaslampe in der Hand.
»Ich finde, sie sieht aus wie eine Leiche«, sagte ich beklommen.
»Du hast schon wieder die Assoziation zu einem Gewaltverbrechen?« fragte Ian und ich nickte.
»Also bei Bellmers Puppe gebe ich dir Recht, aber hier überwiegt dann doch der komische Aspekt. Die Lampe in ihrer Hand empfinde ich als surrealistisches Augenzwinkern des Meisters.«
»Mag sein. Aber das weiße Inkarnat ihrer Haut, die ausgestreckten Glieder. Ich bleibe dabei, dass man auch hier Zeuge eines Verbrechens und nicht einer erotischen Darbietung wird.«
Im gleichen Raum hingen Gemälde und plastische Wandinstallationen von David Lynch und Llyn Foulkes, die einen bitterbösen Blick hinter die Fassaden bürgerlicher Scheinmoral und amerikanischer Wohlanständigkeit warfen.
Noch drastischer wurde es aber im nächsten Saal mit Fotografien von Richard Billingham, der im gnadenlosen Großformat seine bildungsferne Herkunft aus einer Birminhamer White-Trash-Familie dokumentiert und überall dort schonungslos mit der Kamera draufgehalten hatte, wo es wehtat.
Fast wäre ich bei der Betrachtung von Billinghams verwahrlostem Familienclan über den Fuß eines Obdachlosen gestolpert und um ein Haar hätte ich mich auch noch für meine Unachtsamkeit entschuldigt. Erst auf den zweiten, wenn nicht gar erst auf den dritten Blick erkannte man nämlich, dass es sich bei den drei schlafenden Männern um hyperrealistische Figuren des amerikanischen Bildhauers Duane Hanson handelte. In diesem Raum ging es also um einen anderen verbotenen Blick , nämlich um den auf gesellschaftliche Missstände und soziale Ungerechtigkeit.
Im darauffolgenden Ausstellungsraum waren Ed Kienholz‘ erschütterndes Tableau The Illegal Operation und ein Environment einer jungen schwedischen Künstlerin gegenübergestellt. Bei dem illegalen Eingriff handelte es sich um eine Abtreibung, die unter katastrophalen Bedingungen in einem behelfsmäßigen Operationsraum vorgenommen worden war. Es gab keine Figuren, aber die zur OP-Leuchte umfunktionierte Wohnzimmerlampe, ein Melkschemel, ein blutiger Handabdruck, rostiges medizinisches Besteck und der als Operationstisch dienende und wie ein Folterstuhl wirkende Einkaufswagen kündeten von der grausamen Tortur, die hier stattgefunden haben musste.
»Es ist furchtbar, dass Frauen mancherorts bis heute in die Hände solch dubioser Quacksalber und Engelsmacherinnen getrieben werden«, sagte Ian durch
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