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In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught

Titel: In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harlan Coben
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trug Ohrhörer und bewegte sich leicht im Takt eines Songs, den nur er hörte. Falls er sie bemerkt hatte, ließ er es sich nicht anmerken.

    Marcia ging die Treppe hinauf zum ersten Stock. Das Licht war hier oben nicht ganz so grell. Das Klacken ihrer Absätze hallte durchs stille Gebäude, das am Tage vor Leben und Energie nur so strotzte. Es gab keinen unwirklicheren und leereren Ort als einen nächtlichen Schulkorridor.
    Marcia warf einen kurzen Blick über die Schulter nach hinten, aber sie war allein. Sie beschleunigte ihren Schritt, weil sie ein Ziel vor Augen hatte.
    Die Kasselton High School war groß. Die vier Jahrgänge wurden von fast zweitausend Jugendlichen besucht. Das Gebäude war vierstöckig, und, wie bei so vielen Highschools in Städten, deren Bevölkerung stetig wuchs, erkannte man kaum noch die ursprüngliche Struktur unter den vielen nachträglichen Anbauten. Die späteren Erweiterungen des einst malerischen Backsteinbaus zeigten, dass die Verwaltung mehr Wert auf effektive Raumausnutzung als auf Schönheit gelegt hatte. Inzwischen präsentierte sich der Gebäudekomplex als chaotischer Stilmix, der an etwas erinnerte, das ein Kind aus Legosteinen, Holzklötzen und Playmobil-Teilen zusammengebaut hatte.
    Gestern Abend hatte ihr wunderbarer Ehemann in der unheimlichen Stille des McWaid-Hauses seit dreiundneunzig Tagen zum ersten Mal wieder richtig gelacht. Was für ein obszönes Geräusch. Ted hatte sofort wieder aufgehört, er hatte das Lachen abgewürgt und angefangen zu schluchzen. Marcia wollte ihn in den Arm nehmen, etwas tun, um diesen gepeinigten Mann, den sie so sehr liebte, zu trösten. Aber sie hatte es einfach nicht geschafft.
    Ihre anderen beiden Kinder, Patricia und Ryan, schienen mit Haleys Verschwinden etwas besser zurechtzukommen, aber Kinder gewöhnten sich einfach schneller an neue Situationen als Erwachsene. Marcia versuchte, sich ganz auf sie zu konzentrieren und sie mit Aufmerksamkeit und Fürsorge zu
überschütten, aber auch das gelang ihr nicht. Manche Freunde schoben es darauf, dass sie zu sehr unter Haleys Verschwinden litt. Da war etwas dran, aber es steckte noch mehr dahinter. Sie vernachlässigte Patricia und Ryan, weil sie ihre ganze Energie für Haley aufwandte, sich einzig und allein darauf konzentriere, ihre Tochter wieder zurück nach Hause zu holen. Dann, hinterher, würde sie es bei ihren anderen beiden Kindern wiedergutmachen.
    Marcias Schwester, Merilee, die große Besserwisserin aus Great Neck, hatte sogar den Nerv gehabt zu sagen: »Du musst dich auf deinen Mann und die andern Kinder konzentrieren und aufhören, dich in deinem Elend zu suhlen«, und als sie dieses Wort aussprach - suhlen -, da wollte Marcia ihr direkt eine Ohrfeige geben und sagen, sie solle den Mund halten und sich um ihre eigene verdammte Familie kümmern, vor allem um ihren Sohn Greg, der Drogen nahm, und ihren Mann Hal, der wahrscheinlich eine Affäre hatte. Patricia und Ryan würden hoffentlich darüber hinwegkommen, Merilee - und weißt du was? Ihre beste Chance, da wieder heile herauszukommen, bestand nicht darin, eine Mutter zu haben, die dafür sorgte, dass die Pocket, das in den Schlägerkopf geknüpfte Netz, von Ryans Lacrosse-Stick weich genug war oder Patricias Kostüm den richtigen Grauton hatte. Nein, das Einzige, was ihnen wirklich half, war, wenn ihre ältere Schwester gesund wieder nach Hause kam.
    Wenn das passierte, und nur dann, hatten die anderen eine Chance, als Familie zu überleben.
    Die traurige Wahrheit aber war, dass Marcia gar nicht den ganzen Tag damit verbrachte, Haley zu suchen. Sie versuchte es, wurde aber immer wieder von einer furchtbaren Erschöpfung gelähmt. Marcia kam morgens kaum aus dem Bett. Ihre Glieder waren so furchtbar schwer. Selbst jetzt hatte sie Mühe, diese eigenartige Wallfahrt den Korridor entlang zu machen.

    Dreiundneunzig Tage.
    Vor sich sah Marcia Haleys Spind. Ein paar Tage nach Haleys Verschwinden hatten ihre Freunde angefangen, die Metalltür wie einen dieser Schreine am Straßenrand zu dekorieren, die oft an den Stellen errichtet werden, wo jemand bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Fotos und welke Blumen, Kreuze und Notizen hingen dort. »Komm nach Hause, Haley!« »Wir vermissen dich!« »Wir warten auf dich.« »Wir lieben dich!«
    Marcia blieb stehen und starrte den Spind an. Sie streckte die Hand aus, berührte das Zahlenschloss und dachte daran, wie oft Haley hier immer wieder die gleichen Dinge gemacht haben musste:

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