In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught
den Sessel
zu behalten und sich nach der Arbeit mit einem Drink in der Hand hineinfallen zu lassen. Sie aber empfand es als wohltuend, wen kümmerte also, was die anderen dachten.
Schon vor diesem Tag hatte Wendy der Gedanke Sorgen bereitet, wie zum Teufel sie von ihrem aktuellen Gehalt Charlies Studiengebühren bezahlen sollte. Diese Sorgen war sie los - es war jetzt einfach unmöglich geworden. Sie trank noch einen Schluck, sah aus dem Fenster und überlegte, was sie nun tun sollte. Momentan wurden nirgends Leute eingestellt, und, wie Vic es so einfühlsam ausgedrückt hatte, ihre Reputation war schwer angeschlagen. Sie dachte darüber nach, was für Jobs sie noch machen könnte, stellte aber fest, dass sie keine Fähigkeiten hatte, mit denen man auf dem normalen Arbeitsmarkt punkten konnte. Sie war unordentlich, chaotisch, aggressiv und nicht teamfähig. Wenn sie sich ein Arbeitszeugnis ausstellen ließe, würde darin bestenfalls stehen »… war stets um Teamfähigkeit bemüht.« Für eine Reporterin auf der Jagd nach einer Story funktionierte das. In fast allen anderen Arbeitsbereichen nicht.
Sie sah nach der Post, entdeckte den dritten Brief von Ariana Nasbro und empfand einen stechenden Schmerz. Ihre Hände fingen an zu zittern. Sie brauchte den Brief nicht zu öffnen. Sie hätte sich fast übergeben, als sie vor zwei Monaten den ersten gelesen hatte. Mit zwei Fingern nahm sie den Umschlag, als ob ein übler Gestank von ihm aufstieg, ging in die Küche und steckte ihn ganz unten in den Mülleimer.
Zum Glück hatte Charlie nicht nach der Post gesehen. Er wusste natürlich, wer Ariana Nasbro war. Vor neun Jahren hatte Ariana Nasbro Charlies Vater ermordet.
Sie ging die Treppe hinauf und klopfte an Charlies Tür. Natürlich bekam sie keine Antwort, also öffnete sie sie.
Charlie blickte genervt auf und zog sich einen Stöpsel aus dem Ohr. »Was?«
»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«
»Ich wollte grad anfangen.«
Er sah, dass sie verstimmt war, also präsentierte er ihr das Lächeln, das dem seines Vaters so ähnlich war, dass es sie jedes Mal schmerzte. Sie wollte sich schon wieder mit ihm anlegen, ihn darauf aufmerksam machen, dass sie ihn gebeten hatte, zuerst die Hausaufgaben zu machen, aber wen interessierte das eigentlich? Es hatte keinen Sinn, sich über diese ganzen Kleinigkeiten zu streiten, wenn die Zeit mit ihm zusammen so dahinflog und er schon bald weg sein würde.
»Hast du Jersey das Futter hingestellt?«
»Äh …«
Sie rollte die Augen. »Schon gut, ich mach das.«
»Mom?«
»Ja.«
»Hast du das Essen von Bamboo House mitgebracht?«
Abendessen. Sie hatte es vergessen.
Charlie rollte die Augen, imitierte sie.
»Fang mir nicht so an.« Sie hatte vorher beschlossen, ihm die schlechte Nachricht erst einmal zu verschweigen, lieber den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Trotzdem hörte sie sich jetzt sagen: »Ich bin heute gefeuert worden.«
Charlie sah sie nur an.
»Hast du mich verstanden?«
»Yep«, sagte er. »Scheiße.«
»Ja.«
»Soll ich das Essen holen?«
»Klar.«
»Äh, aber du bezahlst doch trotzdem, oder?«
»Erst mal noch, ja. Das kann ich mir wohl grade noch leisten.«
VIER
M arcia und Ted McWaid kamen um sechs in der Aula der Highschool an. Heute hätte der alte Sinnspruch »das Leben geht weiter« kaum zutreffender sein können, schließlich wurde am Abend die Premiere des Musicals Les Misérables in der Fassung der Kasselton High School aufgeführt, in der ihr zweites Kind, Patricia, die Zuschauerin Nr. 4, Schülerin Nr. 6 und die immer heiß begehrte Rolle der Prostituierten Nr. 2 spielte. Als Ted das erfuhr, damals noch in dem Leben vor Haleys Verschwinden, hatte er immer wieder Witze darüber gemacht, wie stolz er darauf wäre, seinen Freunden erzählen zu können, dass seine vierzehnjährige Tochter die Prostituierte Nr. 2 wäre. Das war Vergangenheit, eine Erinnerung an eine andere Welt und eine andere Zeit, in der andere Leute in einem anderen Land lebten.
Als sie eintraten, wurde es still in der Aula. Die Leute wussten nicht, wie sie sich in ihrer Gegenwart verhalten sollten. Marcia verstand das zwar, es interessierte sie aber nicht mehr.
»Ich muss nochmal eben einen Schluck Wasser trinken«, sagte sie.
Ted nickte. »Ich halte uns zwei Plätze frei.«
Sie ging den Schulkorridor entlang, trank einen Schluck am Wasserspender und ging dann weiter. Am nächsten Gang wandte sie sich nach links. Weiter hinten wischte ein Hausmeister mit einem Mopp. Er
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