In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught
weil er nicht zugeben wollte, dass an Stantons Argumentation womöglich etwas dran sein könnte. Man war so oft gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die man gar nicht treffen wollte - da behalfen sich viele damit, diese Entscheidungen möglichst einfach zu gestalten. Man wollte die Menschen ordentlich in Schubladen stecken, sie zu Monstern oder Engeln machen. Und lag damit fast immer daneben. Denn eigentlich bewegte man sich in Grauzonen, und genau das nervte. Es war viel einfacher, in Extremen zu denken.
Als Tom Stanton sich bückte, um unters Bett zu gucken, versuchte Walker, sich wieder auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Vielleicht war es im Moment besser, die Sache in Schwarz-Weiß-Kategorien zu belassen und auf moralische Relativierungen zu verzichten. Ein Mann war verschwunden. Wahrscheinlich war er tot. Sie mussten ihn finden. Das war alles. Ganz egal, wer er war oder was er getan hatte. Sie mussten ihn einfach finden.
Walker ging ins Bad und checkte den Toilettentisch. Zahnpasta, Zahnbürste, Rasierer, Rasiercreme, Deodorant. Sehr faszinierend.
Im Nebenraum sagte Stanton: »Bingo! Unterm Bett. Ich hab sein Handy gefunden.«
Walker wollte schon »na toll« rufen, stutzte dann aber.
Er kannte Mercers Handynummer, daher hatten sie sein Handy geortet und erfahren, dass das letzte Telefonat von diesem Handy nicht lange vor dem Mord etwa fünf Kilometer von der Wohnwagensiedlung entfernt an der Route 15 geführt worden war - das war mindestens eine Stunde Fahrzeit von hier entfernt.
Wie war das Handy dann wieder hier ins Motel gekommen?
Er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Aus dem anderen Zimmer hörte er, wie Stanton fast schon gequält flüsterte: »O nein …«
Als er Stantons Tonfall hörte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. »Was ist?«
»O mein Gott …«
Walker eilte zurück ins Schlafzimmer. »Was gibt’s? Was hast du?«
Stanton hielt das Handy in der Hand. Er war leichenblass. Er starrte das Bild auf dem Display an. Walker sah das Handy in der rosafarbenen Hülle.
Es war ein iPhone. Er hatte das gleiche Model.
»Was ist los?«
Das Display auf dem iPhone wurde dunkel. Stanton sagte nichts. Er hob das Handy hoch und drückte auf den Knopf. Der Bildschirm leuchtete auf. Walker trat einen Schritt näher und sah es sich an.
Sein Mut sank.
Er kannte das Bild auf dem Handy. Es war ein typisches Urlaubsfoto. Vier Personen - drei Kinder, ein Erwachsener -, die lächelnd in die Kamera blickten. In der Bildmitte stand Micky Maus. Und links von Micky, vielleicht mit dem breitesten Lächeln von allen, stand ein vermisstes Mädchen namens Haley McWaid.
ELF
W endy rief Mercers Universitäts-Mitbewohner Phil Turnball an. Nach seinem Abschluss in Princeton hatte Turnball den Expresszug direkt zur Hochfinanz der Wall Street genommen. Er wohnte im exklusiveren Teil von Englewood.
Als die Folge von In Flagranti mit Dan gelaufen war, hatte sie schon einmal versucht, Turnball zu erreichen. Er hatte es abgelehnt, mit ihr zu reden. Sie hatte es dabei belassen. Aber jetzt, wo Mercer tot war, würde Turnball sich vielleicht offener zeigen.
Mrs. Turnball - Wendy hatte ihren Vornamen nicht verstanden - meldete sich am Telefon. Wendy erklärte, wer sie war. »Ich weiß, dass Ihr Mann eigentlich nicht mit mir reden wollte, aber glauben Sie mir, was ich ihm heute zu sagen habe, wird er erfahren wollen.«
»Er ist gerade nicht da.«
»Kann ich ihn irgendwie erreichen?«
Sie zögerte.
»Es ist wichtig, Mrs. Turnball.«
»Er ist bei einem Meeting.«
»In seinem Büro in Manhattan? Ich habe die Adresse noch aus meinen alten …«
»Starbucks«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Das Meeting. Es ist nicht das, was Sie denken. Es ist bei Starbucks.«
Wendy fand einen Parkplatz vor dem Baumgart’s, einem ihrer Lieblingsrestaurants, und ging an vier Läden vorbei zum Starbucks. Mrs. Turnball hatte ihr erzählt, dass Phil im Zuge der Wirtschaftskrise entlassen worden war. Sein Meeting, wenn man es denn so nennen wollte, war eher ein Kaffeeklatsch für ein paar ehemalige Masters of the Universe - eine Gruppe, die Phil gegründet und Fathers Club genannt hatte. Mrs. Turnball hatte ihr erklärt, dass der Club den »urplötzlich arbeitslos gewordenen Workoholics« dabei half, »diese für sie extrem schwierige Situation zu bewältigen und neue Freunde und Kameraden zu finden«, trotzdem war der Sarkasmus in der Stimme der Frau nicht zu überhören. Aber vielleicht bildete Wendy sich das
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