In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught
ermordet.«
Phil Turnball hörte ihr zu, ohne ein Wort zu sagen. Er starrte mit blassem Gesicht und feuchten Augen durch die Windschutzscheibe. Wendy fiel auf, dass er perfekt rasiert war. Auch der Scheitel saß perfekt, außerdem hatten seine Haare noch eine leichte Welle über der Stirn, so dass man sich gut vorstellen konnte, wie er als kleiner Junge ausgesehen hatte. Wendy wartete einen Moment lang, damit er das, was sie ihm erzählt hatte, verarbeiten konnte.
»Soll ich Ihnen irgendetwas holen?«, fragte Wendy.
Phil Turnball schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch, wie ich Dan bei einer Einführungsveranstaltung am ersten Tag an der Uni kennengelernt habe. Er war unglaublich witzig. Wir anderen waren ziemlich nervös und verklemmt, wollten Eindruck schinden. Er fühlte sich einfach wohl da und hatte dabei eine ganz eigenartige Ausstrahlung.«
»Inwiefern eigenartig?«
»Als ob er schon alles gesehen hätte und wüsste, dass es sich nicht lohnte, darum ein großes Affentheater zu machen. Außerdem wollte Dan die Welt verbessern. Ja, ich weiß, das klingt komisch, aber er hat das mehrmals so gesagt. Er ist viel auf Partys gegangen, genau wie wir alle, aber er hat dabei auch immer wieder betont, dass er Gutes tun will. Wir haben alle unsere Pläne gehabt. Wie alle anderen auch. Und jetzt …«
Seine Stimme versiegte.
»Tut mir leid«, sagte Wendy.
»Ich nehme an, dass Sie nicht nur deswegen nach mir gesucht haben, um mir diese schlechte Nachricht zu überbringen.«
»Nein.«
»Sondern?«
»Ich stelle Nachforschungen über Dans …«
»Hatten Sie das nicht schon?« Er sah sie an. »Jetzt kann man doch eigentlich nur noch auf seiner Leiche herumhacken.«
»Das habe ich nicht vor.«
»Was dann?«
»Ich hatte schon einmal bei Ihnen angerufen. Als wir die erste Sendung über Dan ausgestrahlt haben.«
Er sagte nichts.
»Warum haben Sie mich nicht zurückgerufen?«
»Was hätte ich denn sagen sollen?«
»Was Sie wollten.«
»Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Ich wüsste nicht, wie es jemandem hätte helfen sollen, wenn ich öffentlich für einen Pädophilen - selbst für einen zu Unrecht beschuldigten - eingetreten wäre.«
»Glauben Sie, dass Dan zu Unrecht der Pädophilie beschuldigt wurde?«
Phil kniff die Augen zu. Wendy wollte ihn trösten, aber wieder hatte sie das Gefühl, dass es der falsche Schritt wäre. Sie beschloss, das Thema zu wechseln.
»Warum gehen Sie im Anzug zu Starbucks?«, fragte sie.
Phil lächelte fast. »Ich konnte den ›Casual Friday‹ schon früher nicht ausstehen.«
Wendy starrte den attraktiven und doch zutiefst verletzten Mann an. Er wirkte ausgelaugt, blutleer, und es war fast, als würden nur der edle Anzug und die polierten Schuhe ihn noch aufrecht halten.
Als sie ihm ins Gesicht sah, nahm ihr die Erinnerung an ein anderes Gesicht fast den Atem. Wendys geliebter Vater, der mit sechsundfünfzig im Flanellhemd mit hochgekrempelten Ärmeln am Küchentisch saß und seinen ziemlich dünnen Lebenslauf in einen Umschlag steckte. Sechsundfünfzig Jahre alt und zum ersten Mal im Leben ohne Arbeit. Ihr Dad war Gewerkschaftsführer gewesen und hatte achtundzwanzig Jahre die Druckmaschine einer großen New Yorker Zeitung bedient. Er hatte gute Verträge für seine Leute ausgehandelt, nur ein Mal gestreikt, 1989, und wurde von allen in der Firma geliebt.
Dann fusionierte die Zeitung. Es war einer der vielen Unternehmenszusammenschlüsse in diesen an Fusions- und Übernahmeaktivitäten so reichen Neunzigern, die die Anzugträger an der Wall Street wie, tja, Phil Turnball, so liebten, weil die Aktienkurse ein paar Prozentpunkte stiegen, wobei ihnen völlig egal war, was das sonst noch für Konsequenzen hatte. Die Stelle ihres Vaters wurde wegrationalisiert. Er musste gehen. Plötzlich war er zum ersten Mal im Leben arbeitslos. Am nächsten Tag setzte er sich an den Küchentisch und fing an, Bewerbungen und Lebensläufe zu schreiben. Und dabei hatte sein Gesicht fast genauso ausgesehen wie Phil Turnballs in diesem Moment.
»Bist du gar nicht wütend?«, hatte sie ihren Vater gefragt.
»Wut ist doch nur Energieverschwendung.« Ihr Vater steckte einen weiteren Brief in den Umschlag. Er sah zu ihr hoch. »Soll ich dir einen Rat geben - oder bist du schon zu alt dafür?«
»Man ist nie zu alt«, hatte Wendy gesagt.
»Arbeite für dich selbst. Du bist der einzige Boss, dem du wirklich vertrauen kannst.«
Ihr Vater hatte nicht mehr die Chance bekommen, für sich selbst zu
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