In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught
fast vor wie in den entsetzlichen ersten Tagen - überall wurden Vermisst-Poster mit Haleys Bild aufgehängt, ihre Freundinnen wurden angerufen, die Orte, an denen sie am liebsten war, aufgesucht, ihre Vermissten-Website wurde aktualisiert, ein Foto von ihr in den Einkaufszentren der Umgebung verteilt.
Ermittler Tremont, der so nett zu ihrer Familie gewesen war, schien in den letzten Tagen um zehn Jahre gealtert zu sein. Er rang sich ein Lächeln ab und sagte: »Wie geht’s dir, Patricia?«
»Gut, danke.«
Er klopfte ihr auf die Schulter und ging weiter. Das passierte Patricia oft. Sie ragte nicht heraus. Sie war nichts Besonderes. Das störte sie nicht. Die meisten Leute waren nichts Besonderes, obwohl sie sich vielleicht dafür hielten. Patricia war mit ihrer Situation zufrieden - oder zumindest war sie es bislang gewesen. Haley fehlte ihr. Patricia stand nicht gerne im Mittelpunkt. Anders als ihre große Schwester hasste sie Wettkämpfe und mied das Rampenlicht. Jetzt war sie eine Unglücks-Prominente in der Schule, beliebte Mädchen waren nett zu ihr, weil sie Patricia in ihrer Nähe haben wollten. Dann konnten sie auf
der nächsten Party sagen: »Ach, das vermisste Mädchen? Ja, ich bin mit ihrer Schwester befreundet.«
Patricias Mutter half bei der Einteilung der Suchtrupps. Mom strotzte nur so vor Energie, genau wie Haley. Selbst ihr Gang hatte diese pantherähnliche Kraft und Grazie, als ob bereits ein Spaziergang für alle in ihrer Nähe eine Herausforderung wäre. Haley ging voran. Immer. Und Patricia folgte ihr. Manche Leute dachten, das würde sie belasten, aber da lagen sie falsch. Gelegentlich sprach ihre Mutter sie darauf an, sagte: »Du musst einfach entschlossener auftreten«, aber Patricia sah keinen Grund dafür. Sie traf nicht gerne Entscheidungen. Ihr war es auch recht, wenn sie in den Film gingen, den Haley sehen wollte, und ob sie nun chinesisch oder italienisch essen gingen, interessierte sie nicht sonderlich. Eigentlich verstand sie überhaupt nicht, was so toll daran sein sollte, entschlossen aufzutreten.
Die Übertragungswagen der Fernsehsender waren in ein mit Flatterband abgesperrtes Gelände gepfercht - fast so, wie es die Cowboys in Western mit den Rindern machten. Patricia entdeckte die Frau vom Kabelsender mit den graumelierten Haaren und der schrillen Stimme. Ein Reporter schlich sich an der Sperre vorbei und rief Patricias Namen. Er lächelte ihr zu, wobei er viele Zähne zeigte, und deutete auf ein Mikrofon, als wäre es eine Süßigkeit, mit der er sie in seinen Wagen zu locken versuchte. Tremont ging zum Reporter und sagte ihm, er solle verdammt nochmal zusehen, dass er wieder hinter die Absperrung käme.
Die Crew eines weiteren Fernsehsenders stellte eine Kamera auf. Patricia erkannte die hübsche Reporterin, die neben der Kamera stand. Ihr Sohn, Charlie, ging bei ihr auf die Highschool. Charlies Vater war von einer betrunkenen Frau mit dem Auto überfahren worden, als er noch klein war, das hatte
Mom ihr erzählt. Immer wenn sie Mrs. Tynes im Supermarkt, bei einem Spiel oder sonst irgendwo sahen, wurden Patricia, Haley und Mom ganz still - vielleicht aus Respekt, vielleicht aber auch aus Angst, weil sie alle darüber nachdachten, wie es wäre, wenn ein Betrunkener ihrem Dad so etwas antun würde.
Es kamen immer mehr Polizisten. Ihr Dad begrüßte sie mit einem erstarrten Lächeln und schüttelte allen die Hände, als wollte er für irgendetwas kandidieren. Patricia kam mehr nach ihrem Vater - sie ordnete sich unter. Aber ihr Vater hatte sich verändert. Das hatten sie wohl alle, dachte sie, aber in ihrem Dad schien irgendetwas kaputt gegangen zu sein, und sie war sich nicht sicher, ob es sich je wieder reparieren lassen würde, selbst wenn Haley zurück nach Hause kam. Er sah noch genauso aus wie früher, lächelte genauso, versuchte zu lachen, herumzualbern und die Dinge zu tun, die ihn, na ja, zu ihrem Dad machten. Aber bei alldem wirkte er vollkommen leer, fast so, als ob man ihn von innen heraus ausgehöhlt hätte - wie in einem dieser Film, wo Außerirdische die Menschen durch seelenlose Klone ersetzen.
Die Polizisten vor ihnen hatten auch Polizeihunde dabei, Dänische Doggen, und Patricia ging hin.
»Darf ich sie streicheln?«, fragte sie.
»Natürlich«, sagte ein Polizist nach kurzem Zögern.
Patricia kraulte einen hinter dem Ohr, und der ließ vor Begeisterung die Zunge heraushängen.
Die Leute sprachen oft darüber, wie sehr einen die Eltern formten, aber
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