In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught
für Patricia war es Haley, die sie am meisten geprägt hatte. Als die Mädchen in der zweiten Klasse angefangen hatten, Patricia zu hänseln, hatte Haley als Warnung eine von ihnen verprügelt. Als ein paar Jungs ihnen im Madison Square Garden hinterhergepfiffen hatten - Haley war mit ihrer kleinen Schwester beim Taylor-Swift-Konzert gewesen -, hatte
Haley sich vor sie gestellt und ihnen gesagt, dass sie aufhören sollten. Als sie in Disney World in Florida waren, hatten die Eltern Haley und ihr erlaubt, einen Abend lang alleine wegzugehen. Da hatten sie sich am Ende im All-Star Sports Resort mit ein paar älteren Jungs getroffen und sich betrunken. Patricia hatte damals ihr erstes Bier gehabt, und hinterher hatte sie noch ein bisschen mit einem Jungen namens Parker herumgemacht. Aber Haley hatte aufgepasst, dass Parker nicht zu weit ging.
»Wir fangen tief hinten im Wald an«, sagte Ermittler Tremont zum Hundeführer.
»Wieso das denn?«
»Wenn sie noch lebt, wenn der Drecksack sich ein Versteck gebaut hat und sie darin gefangen hält, muss es abseits der Straßen und Wanderwege sein, sonst hätte sie schon jemand gehört. Wenn sie jedoch irgendwo nah am Weg ist …«
Er verstummte, als ihm bewusst wurde, dass Patricia in Hörweite war. Sie blickte in den Wald, streichelte den Hund weiter und tat so, als ob sie nichts mitbekommen hätte. Drei Monaten lang hatte Patricia nichts an sich herangelassen. Haley war stark. Sie würde überleben. Es war, als wäre ihre große Schwester zu einem seltsamen Abenteuer aufgebrochen und würde bald wieder nach Hause kommen.
Aber jetzt, während sie in den Wald starrte und den Hund streichelte, stellte sie sich das Unvorstellbare vor: Haley, alleine, ängstlich, verletzt, weinend. Patricia kniff die Augen zusammen. Frank Tremont kam auf sie zu. Er stellte sich vor sie, räusperte sich und wartete, dass sie die Augen wieder aufmachte. Sie tat es und rechnete mit ein paar tröstenden Worten. Doch er sagte nichts. Er stand nur da und trat unentschlossen von einem Fuß auf den anderen.
Und so schloss Patricia die Augen wieder und streichelte weiter den Hund.
EINUNDZWANZIG
W endy stellte sich ans Absperrband und sprach in das Mikrofon mit dem NTC-News-Logo. »Und so warten wir auf eine Nachricht«, sagte sie und versuchte gleichzeitig angemessen ernst zu klingen und dabei doch die typische Melodramatik von Nachrichtenmoderatorinnen zu vermeiden. »Aus dem Ringwood State Park im Norden New Jerseys berichtete Wendy Tynes für NTC-News.«
Sie ließ das Mikrofon sinken. Sam, ihr Kameramann, sagte: »Mach das lieber nochmal.«
»Wieso?«
»Dein Pferdeschwanz ist locker.«
»Das ist okay.«
»Komm schon, zieh das Haargummi ran. Das dauert keine zwei Minuten. Vic wird eine weitere Aufnahme wollen.«
»Vic kann mich mal.«
Sam rollte mit den Augen. »Das soll jetzt ein Witz sein, oder?«
Sie sagte nichts.
»Hey, du bist doch diejenige, die völlig sauer wird, wenn wir eine Aufnahme senden, in der dein Make-up verschmiert ist«, fuhr er fort. »Und plötzlich muss alles absolut echt und authentisch sein?«
Wendy drückte ihm das Mikrofon in die Hand und ging. Sam hatte natürlich Recht. Sie war Fernsehreporterin. Jeder, der glaubte, Aussehen würde in dieser Branche keine Rolle
spielen, war zumindest naiv, wenn nicht schon hirntot. Natürlich war das Aussehen wichtig - und Wendy hatte sich in diversen mindestens ebenso grausigen Situationen sorgfältig für die Kamera hergerichtet und durchaus mehrere Aufnahmen gemacht, wenn etwas nicht perfekt saß.
Kurz gesagt, zu der immer länger werdenden Liste ihrer Fehler und Versäumnisse kam jetzt noch Heuchelei hinzu.
»Wo willst du hin?«, fragte Sam.
»Ich hab mein Handy dabei. Ruf mich an, wenn hier was passiert.«
Sie ging zu ihrem Wagen. Eigentlich wollte sie Phil Turnball anrufen, aber dann fiel ihr ein, wie seine Frau Sherry gesagt hatte, dass Phil jeden Morgen allein mit den Stellenanzeigen im Suburban Diner an der Route 17 saß. Das war nur etwa zwanzig Minuten von hier entfernt.
Die klassischen New Jersey Diners von früher hatten diese wunderbaren, glänzenden Aluminium-Außenwände. Die neueren - »neuer« hieß in diesem Fall seit zirka 1968 - besaßen Fassaden aus Naturstein-Imitat, bei denen Wendy sich sofort nach, tja, Aluminium sehnte. Die Innenräume hatten sich allerdings nicht sehr verändert. Vor dem Tresen standen Drehhocker, obendrauf lagen Donuts unter Batphone-artigen Glasglocken, an den Tischen
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