In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught
befanden sich noch immer kleine Jukeboxes, an den Wänden hingen signierte, von der Sonne ausgebleichte Fotos von einheimischen Prominenten, deren Namen man noch nie gehört hatte, an der Kasse saß ein verdrießlicher Mann, dem Haare aus den Ohren wuchsen, und die Kellnerin nannte alle Kunden Schätzchen, wofür man sie einfach lieben musste.
In der Jukebox lief der Achtziger-Jahre-Hit »True« von Spandau Ballet, eine seltsame Wahl für sechs Uhr morgens. Phil Turnball saß an einem kleinen Tisch in der Ecke. Er trug
einen grauen Nadelstreifenanzug mit einer jener gelben Krawatten, die man früher »Power Tie« genannt hatte. Er las nicht in der Zeitung. Er starrte in seinen Kaffee, als wäre darin irgendeine Antwort zu finden.
Wendy trat zu ihm und wartete, dass er aufblickte. Vergeblich.
Ohne sie anzusehen, fragte er: »Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«
»Ihre Frau erwähnte, dass Sie hier herkommen.«
Er lächelte, es lag aber keine Fröhlichkeit darin. »Ach, wirklich?«
Wendy sagte nichts.
»Sagen Sie, wie genau ist dieses Gespräch abgelaufen - ›Ach, wissen Sie, der jämmerliche Phil fährt jeden Morgen in dieses Diner, um sich da in Selbstmitleid zu ergehen‹?«
»Absolut nicht«, sagte Wendy.
»Natürlich nicht.«
Es lohnte sich nicht, das Thema zu vertiefen. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mich setze?«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
In der Zeitung war die Seite aufgeschlagen, auf der stand, dass Haleys Handy in Dan Mercers Motelzimmer gefunden worden war. »Haben Sie diese Sache über Dan gelesen?«, wollte Wendy wissen
»Yep. Wollen Sie ihn immer noch in Schutz nehmen? Oder war das von Anfang an nur Geschwätz?«
»Ich versteh nicht, was Sie meinen.«
»Haben Sie bei unserem Gespräch schon gewusst, dass Dan dieses Mädchen entführt hatte? Dachten Sie, ich würde nicht mit Ihnen reden, wenn Sie mir erzählt hätten, was wirklich passiert ist, und haben deshalb behauptet, Sie würden versuchen, seinen guten Ruf wiederherzustellen?«
Wendy setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Ich habe
nie gesagt, dass ich seinen guten Ruf wiederherstellen will. Ich habe gesagt, dass ich die Wahrheit herausfinden will.«
»Wie großherzig«, sagte er.
»Warum sind Sie so feindselig?«
»Ich habe gesehen, wie Sie sich gestern mit Sherry unterhalten haben.«
»Na und?«
Phil Turnball nahm den Kaffee mit beiden Händen hoch, einen Finger im Henkel, mit den anderen die Tasse stützend. »Sie wollten sie wohl überreden, dass ich mit Ihnen zusammenarbeite.«
»Und wieder frage ich: Na und?«
Er trank einen Schluck und stellte die Tasse behutsam ab. »Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich meine, ein paar von den Dingen, die Sie darüber erzählt haben, dass Dan reingelegt wurde, klangen ziemlich plausibel. Aber jetzt …«, mit dem Kinn deutete er auf den Artikel über Haleys Handy, »… was soll das jetzt noch?«
»Vielleicht können Sie bei der Suche nach einem vermissten Mädchen helfen.«
Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen.
»Was ist?«
Die Kellnerin - eine schlecht blondierte Matrone mit einem Bleistift hinter dem Ohr, die Wendys Vater eine »Schickse« genannt hätte - fragte: »Kann ich Ihnen etwas bringen?«
Mist, dachte Wendy. Wo blieb das »Schätzchen«?
»Nein, nichts, danke«, sagte Wendy.
Die Kellnerin verschwand wieder. Phil hatte die Augen immer noch geschlossen.
»Phil?«
»Inoffiziell?«, fragte er.
»In Ordnung.«
»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, ohne meinen Worten eine Bedeutung zu geben, die sie nicht haben.«
Wendy wartete, ließ ihn erst einmal seine Gedanken sortieren.
»Hören Sie, Dan und diese Sexgeschichten …«
Er brach ab. Wendy wollte ihm eigentlich direkt ins Wort fallen. Sexgeschichten? Der Versuch, sich mit einem minderjährigen Mädchen zu treffen und ein anderes womöglich entführt zu haben - so etwas sollte man eigentlich nicht als »Sexgeschichten« abtun. Aber für Moralpredigten war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Also sagte sie nichts und wartete einfach ab.
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich behaupte nicht, dass Dan ein Pädophiler war. So war das nicht.«
Wieder brach er ab, und dieses Mal war Wendy nicht sicher, ob er ohne Aufforderung weiterreden würde. »Sondern wie?«, fragte sie.
Phil setzte an, stockte, schüttelte den Kopf. »Sagen wir einfach, dass Dan auch gerne mal bei einer Jüngeren rangegangen ist, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Wendys Mut
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