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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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selbst zu Miniberühmtheiten werden. Aufgeregt würden sie zu Bekannten und Arbeitskollegen sagen: »Du hast doch bestimmt in der Zeitung von dieser Frau gelesen, Abbie Devereaux? Ich habe sie gekannt. Ich kann es noch gar nicht fassen!« Und sie würden alle völlig geschockt sein und sich insgeheim damit trösten, dass sie selbst zwar auch ihre Probleme hatten, aber wenigstens nicht ganz so viel Pech wie Abbie Devereaux. Gott sei Dank hatte es Abbie getroffen und nicht sie selbst.
    Aber Abbie Devereaux bin ich, und das alles ist einfach nicht fair.

    Er kam herein und legte mir die Schlinge um den Hals. Ich würde erneut die Sekunden zählen. Ich hatte darüber nachgedacht, wie ich es am besten anstellte, mich nicht wieder zu verheddern, und mir einen Plan zurechtgelegt.
    Sechzig Sekunden pro Minute, sechzig Minuten pro Stunde. Das ergibt 3600 Sekunden. Ich würde mir vorstellen, dass ich in einer Stadt, deren Name mit A beginnt, einen Hügel hinaufstieg, einen Hügel mit dreitausendsechshundert Häusern. Ich würde im Vorbeigehen die Häuser zählen. Leider fiel mir keine Stadt ein, die mit A beginnt. Doch, Aberdeen. Ich ging in Aberdeen den Hügel hinauf. Eins, zwei, drei, vier … Als ich oben angelangt war, begann ich in Bristol von neuem.

    Dann war Cardiff an der Reihe, dann Dublin, Eastbourne, Folkestone, und als ich in Gillingham die erste Hälfte des Hügels hinter mich gebracht hatte, kam er zurück und nahm mir die Schlinge ab. Sechseinhalb Stunden.

    Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Morgen ist auch noch ein Tag. Zweimal morgen, stimmte das? Was gab es noch für Sprichwörter?
    Denk nach, Abbie, denk nach. Zu viele Köche verderben den Brei und gleich und gleich gesellt sich gern und Gegensätze ziehen sich an und eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Abendrot Schönwetterbot. Morgenstund hat Gold im Mund. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Marmorstein und Eisen bricht … Nein, das war etwas anderes. Ein Lied. Ein Liedtext, kein Sprichwort. Wie ging die Melodie? Ich versuchte mich zu erinnern, die Musik in meinen Kopf zu holen und in dieser stillen, bedrückenden Dunkelheit ihren Klang zu hören, aber es gelang mir nicht.
    Mit Bildern ging es leichter. Ein gelber Schmetterling auf einem grünen Blatt. Flieg nicht weg. Ein Fluss mit Fischen darin. Ein See mit klarem, sauberem Wasser. Ein sanft geschwungener Hügel, und auf seiner Kuppe ein silbriger Baum, dessen Blätter sich im Wind hoben. Was noch? Nichts mehr. Nichts. Es war zu kalt.

    »Hallo. Ich habe gehofft, dass Sie bald kommen.«
    »Du hast dein Wasser noch nicht ausgetrunken.«
    »Das hat doch keine Eile, oder? Es gibt so vieles, was ich Sie fragen wollte.«
    Er stieß einen leisen, kehligen Laut aus. Ich zitterte, aber vielleicht lag das bloß daran, dass ich so fror. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich jemals wieder warm zu fühlen oder sauber. Oder frei.
    »Schließlich sind wir beide hier ganz allein, zwei erwachsene Menschen. Wir sollten uns besser kennen lernen. Miteinander reden.« Er gab mir keine Antwort, womöglich hörte er mir gar nicht zu. Ich holte Luft und sprach weiter: »Immerhin müssen Sie mich aus einem bestimmen Grund ausgesucht haben. Sie kommen mir vor wie ein Mensch, der nichts grundlos tut, habe ich Recht?
    Sie gehen immer logisch vor, glaube ich. Das gefällt mir.
    Logisch.« Ein seltsames Wort. Das alles klang so falsch.
    »Sprich weiter«, sagte er.
    Sprich weiter. Ein gutes Zeichen. Was sollte ich als Nächstes sagen? Über meiner Oberlippe spürte ich eine wunde Stelle. Ich leckte mit der Zungenspitze darüber. Sie fühlte sich wie ein Bläschenausschlag an. Vielleicht überzog sich mein ganzer Körper langsam mit Blasen und offenen Stellen. »Ja. Logisch. Zielsicher.« Nein. Definitiv das falsche Wort. Versuch es noch mal, Abbie.
    »Zielgerichtet. Sie sind ein starker Mensch, habe ich Recht?« Er gab mir keine Antwort, aber ich hörte seinen heiseren Atem. »Ja, ich glaube, ich habe Recht. Männer sollten stark sein, obwohl viele von ihnen schwach sind.
    Viele«, wiederholte ich. »Aber ich glaube, Sie sind auch einsam. Die Menschen erkennen Ihre Hoffnungen nicht.
    Nein, Ihre Stärken, wollte ich sagen, Stärken, nicht Hoffnungen. Sind Sie einsam?« Es klang so, als würde ich Steine in einen tiefen Brunnen werfen. Ich sprach diese albernen

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