In seiner Hand
mehr geleert worden, seit ich das letzte Mal hier gewesen war, und nahm einen Schluck von meinem langsam abkühlenden Tee. Dann ging ich zum Fenster hinüber und blickte hinaus, presste meine Stirn gegen die eisige Scheibe. Ich rechnete fast damit, ihn unten auf dem Gehsteig stehen zu sehen, lachend zu mir heraufblickend.
Ich würde ihn überhaupt nicht erkennen. Er konnte jeder sein. Der alte Mann, der einen störrischen Dackel mit steifen Beinen hinter sich herzog, der junge Typ mit dem Pferdeschwanz oder der sympathisch aussehende Vater mit Bommelmütze, der ein rotwangiges Kind an der Hand führte. Auf den Bäumen und den Dächern der Häuser und Autos lag eine dünne Schicht Schnee, und die Leute, die vorbeigingen, waren in dicke Mäntel und Schals gehüllt und eilten mit gesenktem Kopf durch die Kälte.
Niemand sah zu mir herauf. Ich war völlig durcheinander, wusste nicht einmal mehr, worüber ich gerade nachgedacht hatte. Ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun oder wen ich um Hilfe bitten sollte. Ich wusste nicht einmal, um welche Art von Hilfe ich bitten sollte: Sagt mir, was passiert ist, was ich tun soll, wer ich bin, sagt mir, in welche Richtung ich von hier aus gehen soll, sagt mir einfach irgendetwas …
Ich schloss die Augen und versuchte zum x-ten Mal, mich an etwas zu erinnern. Ein kleiner schmaler Lichtstreif in der Dunkelheit hätte schon genügt. Doch es gab kein Licht, und als ich die Augen wieder aufschlug, starrte ich erneut auf die Straße hinunter, die mir in ihrem winterlichen Kleid ganz fremd erschien.
Ich ging zum Telefon und wählte Terrys Büronummer.
Es läutete und läutete. Ich versuchte es unter seiner Handynummer, bekam aber nur die Mailbox.
»Terry«, sagte ich. »Terry, ich bin’s, Abbie. Ich muss dich ganz dringend sprechen.«
Als Nächstes wählte ich Sadies Nummer, doch es sprang nur der Anrufbeantworter an, und ich wollte keine Nachricht hinterlassen. Ich spielte mit dem Gedanken, bei Sheila und Guy anzurufen, aber dann würde ich ihnen alles erklären müssen, und das wollte ich nicht. Noch nicht.
Ich hatte mir oft vorgestellt, wie es sein würde, nach Hause zu kommen und meine Geschichte zu erzählen. In meiner Phantasie wäre ich dabei von Freunden umringt gewesen, die mir mit weit aufgerissenen Augen zuhörten.
Ich hätte ihnen eine Schauergeschichte mit einem Happyend erzählt, eine Geschichte der Verzweiflung, dann der Hoffnung, am Ende des Triumphes. Ich wäre eine Art Heldin gewesen, weil ich überlebt hatte und ihnen diese Geschichte erzählen konnte. Die Grausamkeit des ganzen Geschehens wäre durch das Ende wieder wettgemacht worden. Was aber konnte ich ihnen jetzt erzählen? Die Polizei glaubt, dass ich lüge. Sie glaubt, dass ich alles bloß erfunden habe. Ich weiß, was es mit dem Misstrauen auf sich hat: Es breitet sich aus. Wie ein hässlicher Fleck.
Was tut man, wenn man sich verloren, wütend, deprimiert, ängstlich, ein wenig krank und vollkommen verfroren fühlt? Ich ließ mir ein Bad einlaufen, ein sehr heißes Vollbad. Nachdem ich mich ausgezogen hatte, betrachtete ich mich im Spiegel. Nicht nur meine Wangen wirkten eingefallen, auch meine Pobacken. Meine Hüftknochen und Rippen standen scharf hervor. Die Frau im Spiegel war mir fremd. Ich stellte mich auf die Waage unter dem Waschbecken: Ich hatte über zehn Kilo abgenommen.
Vorsichtig ließ ich mich in das heiße Wasser sinken, hielt mir mit Zeigefinger und Daumen die Nase zu, holte tief Luft und verschwand komplett unter der Wasseroberfläche. Als ich schließlich prustend wieder auftauchte, hörte ich jemanden schreien. Jemand schrie mich an. Ich blinzelte. Ein wütendes Gesicht nahm langsam Konturen an.
»Terry!« sagte ich.
»Was zum Teufel machst du da? Bist du total verrückt geworden?«
Er trug noch seine dicke Jacke, und sein Gesicht war von der Kälte rot gefleckt. Ich hielt mir erneut die Nase zu und sank zurück unter Wasser, wo ich ihn nicht mehr sehen und seine Stimme nicht hören musste. Die Stimme, die mich verrückt nannte.
2
Unter Terrys wütendem Blick kletterte ich aus der Badewanne, wickelte mich in ein Handtuch und ging ins Schlafzimmer, wo ich mir die erstbesten Klamotten schnappte, die ich finden konnte – eine alte Jeans aus dem Müllsack, einen kratzigen dunkelblauen Pulli aus der Schublade, die abgewetzten Turnschuhe, den alten, zerknautschten Slip. Wenigstens waren die Sachen sauber.
Auf der Ablage über der Badewanne fand ich ein Haarband. Mit
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