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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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vielleicht lag gerade darin das Interessante. Immerhin wusste ich jetzt, dass ich es vorgezogen hatte, die letzten Tage vor meiner Entführung nicht mit meinen engsten Freunden zu verbringen. Doch mit wem hatte ich sie verbracht? Was hatte ich gemacht? Wer war ich gewesen?
    »Was wirst du jetzt tun?« Wie so oft klang er dabei wie ein Gerichtsmediziner.
    »Wie meinst du das?«
    »Wenn das, was du sagst … ich meine, nach allem, was du sagst, muss er noch irgendwo da draußen sein, und er weiß, dass du wieder da draußen bist. Was also wirst du unternehmen?«
    Ich trank einen weiteren Schluck Kaffee. Das war die Frage, die sich mir unerbittlich aufdrängte und die ich bisher zu ignorieren versucht hatte.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Mich verstecken.
    Was kann ich sonst tun?«

    5
    Ich hatte keinen Termin, und es hieß, ich müsste mindestens fünfzig Minuten warten, bis ich an der Reihe war, aber das machte mir nichts aus. Ich hatte nichts vor, und hier war es warm. Und sicher. Ich ließ mich auf einem Sessel in der Nähe der Tür nieder und blätterte durch die letztjährigen Hochglanzmagazine. Penny, die mir die Haare schneiden würde, forderte mich auf, mir Frisuren auszusuchen, die mir gefielen. Ich studierte also Filmstars, Musikerinnen und andere Berühmtheiten und versuchte, mir mein Gesicht unter ihrem Haar vorzustellen. Dennoch würde ich immer noch so aussehen wie ich. Draußen begann es zu dämmern. Auf dem Gehsteig hasteten Passanten vorbei, in Mäntel und Schals gehüllt. Autos und Lastwagen donnerten die Straße entlang und ließen zu beiden Seiten schmutzigen Schneematsch hochspritzen.
    Drinnen war es hell und ruhig, man hörte nur das Schnippen der Scheren, das Geräusch des Besens, der abgeschnittene Haarsträhnen und Locken zu weichen Häufchen zusammenfegte, hin und wieder gedämpftes Stimmengemurmel. Sechs Kunden wurden die Haare geschnitten, allesamt Frauen. In schwarze Umhänge gehüllt, saßen sie in gerader Haltung auf ihren Stühlen oder mit zurückgelegtem Kopf vor den Waschbecken, wo Shampoo und Spülungen in ihre Kopfhaut massiert wurden. Es roch nach Kokosnuss, Apfel, Kamille. Ich schloss die Augen. Ich hätte den ganzen Tag hier sitzen können.
    »Haben Sie sich schon entschieden?«
    »Kurz«, antwortete ich und riss die Augen auf. Sie führte mich vor einen großen Spiegel und stellte sich hinter mich.

    Den Kopf nachdenklich zur Seite geneigt, fuhr sie mit den Händen durch mein Haar.
    »Und Sie sind sicher, dass Sie es kurz wollen?«
    »Ja. Richtig kurz. Keinen Bob oder so. Sie wissen schon, einen richtigen Kurzhaarschnitt. Allerdings nicht zu maskulin.«
    »Leicht durchgestuft vielleicht. Damit Sie es auch wild stylen können. Aber mit weichen Konturen?«
    »Ja, das klingt gut. Und eine neue Farbe möchte ich auch.«
    »Dafür brauchen wir dann aber eine gute Stunde länger.«
    »Das macht nichts. Zu welcher Farbe würden Sie mir denn raten?«
    »Ihr Haar ist sehr schön, so wie es ist.«
    »Ich möchte trotzdem eine Veränderung. Ich habe an Rot gedacht. Einen leuchtenden Rotton.«
    »Rot?« Sie nahm eine Strähne meines langen hellen Haars und ließ sie durch ihre Finger gleiten. »Glauben Sie, dass Rot zu Ihrer Gesichtsfarbe passt? Wie wäre es mit einem weicheren Ton – einem dunklen Karamellton vielleicht, mit interessanten Glanzlichtern?«
    »Würde mich das sehr verändern?«
    »O ja, definitiv.«
    Ich hatte nie wirklich kurzes Haar gehabt. Als Mädchen weigerte ich mich meist, es mir überhaupt schneiden zu lassen. Ich wollte so wie meine Freundin Chen sein, die auf ihrem blauschwarzen Haar sitzen konnte. Sie trug immer einen Zopf, der mit einer Samtschleife zusammengehalten wurde. Er schlängelte sich an ihrem Rücken hinunter, dick und glänzend, als würde er leben.
    Ich hob eine Hand und strich über meinen Scheitel, warf einen letzten Blick auf mein langes Haar.

    »Also dann«, sagte ich. »lassen Sie uns anfangen, ehe ich es mir anders überlege.«
    »Sobald die Farbe eingezogen ist, bin ich wieder bei Ihnen.«
    Eine andere Friseuse färbte mir das Haar. Zunächst bestrich sie es mit einer dicken bräunlichen Paste, die unangenehm und chemisch roch. Ich musste mich unter eine warme Lampe setzen. Anschließend gab sie ein paar hellere Kleckse auf einzelne Haarsträhnen und umwickelte sie mit Alufolie. Ich sah wie ein dressiertes Huhn aus, bereit, in den Ofen geschoben zu werden. Ich schloss erneut die Augen. Ich wollte es nicht sehen.
    Finger fuhren

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