In seiner Hand
jedenfalls nicht auf den ersten Blick.«
»Großartig«, sagte ich.
Nun wirkte sie wieder sehr beunruhigt.
Ich saß im Wagen und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Avalanche. Ich hatte das Gefühl, auf einem neuen Planeten abgeworfen worden zu sein. Einem nebligen Planeten. Was wusste ich eigentlich? Ich hatte nach einem Streit meinen Job hingeschmissen, zumindest vorübergehend. Die Leute bei Jay & Joiner hielten mich für eine traumatisierte Irre. Und ich hatte meinen Freund verlassen. In den darauf folgenden Tagen war ich durch die Stadt gefahren und hatte Leute besucht, die mit dem Projekt zu tun gehabt hatten, sie allem Anschein nach ermutigt, sich wegen der Art zu beschweren, in der unsere Firma mit ihnen umgegangen war. Und ich hatte einen wahnsinnigen und mörderischen Mann kennen gelernt.
Oder war es denkbar, dass ich ihn schon gekannt hatte?
Das konnte nicht sein, oder doch?
Ich kam mir plötzlich vor wie ein Tier, das ohne Deckung über eine freie Fläche läuft. Ich hätte mich so gerne in Sicherheit gebracht, wusste aber nicht, in welche Richtung ich laufen sollte. Es gab Leute, die nicht wussten, was mir passiert war, und es gab andere, die es mir nicht glaubten. Einen Menschen aber gab es, der genau wusste, dass ich die Wahrheit sagte. Wo war er?
Schaudernd blickte ich mich um. Vielleicht konnte ich an einen ganz weit entfernten Ort flüchten und nie wieder zurückkehren. Nach Australien. Was sollte ich tun, mit langwierigen Auswanderungsvorbereitungen beginnen?
Welche Voraussetzungen musste man dafür erfüllen? Oder sollte ich einfach nach Australien in Urlaub fahren und mich weigern, das Land wieder zu verlassen? Das erschien mir auch nicht sehr erfolgversprechend.
Ich nahm die Rechnung des indischen Restaurants aus dem Handschuhfach. Maynard Street l1b, NW1. Die Adresse sagte mir nichts. Vielleicht hatte sie jemand anderer in meinem Auto zurückgelassen, und sie hatte gar nichts mit mir zu tun. Das war das eine Ende auf der Skala der Möglichkeiten. Das andere Extrem war, dass es sich dabei um die Adresse meines Entführers handelte.
Nachdem mir dieser Gedanke gekommen war, wusste ich, dass ich dort hinfahren musste. Es war, als würde ich auf einem sehr hohen Sprungturm stehen, wissend, dass es im Nachhinein unaufhörlich an mir nagen würde, wenn ich nicht sprang, sondern feige die Treppe wieder hinunterstieg.
Der Tag entpuppte sich allmählich als der längste meines Lebens. Ich warf einen Blick ins Straßenverzeichnis. Es war gar nicht so weit. Außerdem sah ich inzwischen völlig anders aus. Ich konnte so tun, als hätte ich mich in der Wohnung geirrt. Wahrscheinlich würde sowieso nichts dabei herauskommen.
Die Wohnung lag im ersten Stock eines stuckverzierten Hauses in einer Seitenstraße der Camden High Street. Ich fand eine freie Parkuhr und stopfte Kleingeld für sechsunddreißig Minuten hinein. Dann holte ich tief Luft und steuerte auf das Haus zu. Die Wohnung hatte einen eigenen Eingang, der an der Seite des Gebäudes lag.
Bevor ich klingelte, ging ich zum Auto zurück und holte meine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach. An diesem kalten Winterabend war es inzwischen stockdunkel, aber die Brille würde meine Verkleidung perfekt machen. Falls mir eine Frau die Tür aufmachte, würde ich ein Gespräch mit ihr beginnen. Wenn ein Mann öffnete, würde ich auf Nummer Sicher gehen. Ich würde lediglich sagen »Tut mir Leid, ich habe mich wohl in der Hausnummer geirrt«, und zielstrebig weitergehen. Auf der Straße waren noch genügend Leute unterwegs, so dass ich kein Risiko einging.
Aber es machte niemand auf. Ich drückte noch einmal auf die Klingel. Und noch einmal. Drinnen hörte ich es läuten. Irgendwie spürt man, wenn eine Klingel in einer leeren Wohnung läutet. Ich zog den Autoschlüssel aus meiner Tasche und spielte unentschlossen damit herum.
Ich konnte es bei einer der anderen Wohnungen im Haus versuchen, doch was sollte ich fragen? Ich kehrte zum Wagen zurück. Ein Blick auf die Parkuhr sagte mir, dass mir noch einunddreißig Minuten blieben. Pure Verschwendung. Ich öffnete das Handschuhfach, um die Restaurant-Rechnung wieder hineinzuschieben. Zwischen allerlei anderem – dem Fahrtenbuch, einer Broschüre, meiner Automobilklub-Mitgliedskarte – lag dieser ominöse Schlüssel, der nicht der Schlüssel zu meiner alten Wohnung war.
Obwohl ich mir dabei lächerlich vorkam, griff ich nach ihm und ging erneut zur Wohnungstür. Mit einem Gefühl völliger
Weitere Kostenlose Bücher