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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Teil meines Gehirns hatte es gewusst. Ich blieb ganz still stehen und versuchte, diesen Fetzen einer verschütteten Erinnerung wachsen zu lassen, aber ohne Erfolg. Schließlich füllte ich das Glas großzügig mit Wein – vielleicht hatte ich ihn ja sogar selbst gekauft – und legte Musik auf. Ich rechnete damit, Jo durch die Tür kommen zu sehen, und dieser Gedanke machte mich nervös und aufgeregt zugleich. Würde sie bestürzt sein, mich zu sehen, oder froh? Würde sie mich beiläufig begrüßen oder voller Missbilligung und Erstaunen? Würde sie die Augenbrauen heben oder mich in die Arme schließen? Im Grunde aber wusste ich, dass sie nicht kommen würde. Sicher war sie weggefahren.
    Hier in der Wohnung war schon seit Tagen niemand mehr gewesen.
    Die kleine Lampe des Anrufbeantworters blinkte, und nach kurzem Zögern drückte ich den Wiedergabeknopf.
    Die erste Nachricht stammte von einer Frau, die sagte, sie hoffe, es sei alles in Ordnung, und sie werde abends kochen, falls Jo zu Hause bleibe. Die Stimme kam mir bekannt vor, aber dennoch vergingen einige Augenblicke, bis ich realisierte, dass es meine war.
    Schaudernd spulte ich zurück, lauschte ein weiteres Mal meiner Stimme, die an diesem fremden Ort seltsam unvertraut klang. Immerhin hörte ich mich recht fröhlich an. Ich trank einen Schluck von dem leicht essigsauren Wein. Die nächste Anruferin sprach lang und in herrischem Ton über das Abgabedatum einer Arbeit und dass der Termin vorverlegt werde. Dann sagte eine Männerstimme kurz und bündig: »Hallo, Jo, ich bin’s, wollen wir uns mal treffen? Ruf mich an.« Eine weitere Frau erklärte, sie sei morgen in der Stadt, vielleicht habe Jo ja Lust auf einen Drink. Die nächste Stimme, wieder eine Frau, sagte bloß: »Hallo? Hallo?«, bis die Verbindung unterbrochen wurde. Ich beschloss, die Nachrichten vorerst nicht zu löschen, und nahm einen weiteren Schluck von dem sauren, gelblichen Wein.
    War ich an diesem Ort ein Eindringling, oder wohnte ich jetzt hier? Ich wollte bleiben, ein heißes Bad nehmen, in mein Rugby-Shirt schlüpfen, Pasta essen und mich vom Fernseher – meinem Fernseher – berieseln lassen, gemütlich in meinen Sessel gekuschelt, die Füße auf ihrem Teppich. Ich wollte nicht bei Freunden bleiben, die zwar sehr nett und höflich waren, mich aber für verrückt hielten. Ich wollte hier bleiben, Jo kennen lernen und alles über den Teil von mir herausfinden, den ich verloren hatte.
    Was auch immer ich später tun würde, erst einmal musste ich so viel wie möglich in Erfahrung bringen. Alles hübsch der Reihe nach. Ich ließ mich auf dem Sessel nieder und leerte den Inhalt meiner Tasche auf den Couchtisch. Der größte Gegenstand war ein dicker brauner A5-Umschlag, auf dem mein Name stand. Ich schüttelte den Inhalt heraus: zwei Pässe, einer alt und einer brandneu. Ich schlug den neuen auf und betrachtete mein Foto, das mit den beiden, die im Spiegelrahmen steckten, identisch war. Ein Flugticket: Vor zehn Tagen hätte ich nach Venedig fliegen sollen, zurückgekommen wäre ich vorgestern. Es war schon immer mein Wunsch, nach Venedig zu reisen.

    Ein Paar ineinandergeschobene schwarze Handschuhe.
    Mein Adressbuch, dessen Rücken sich bereits aufzulösen begann. Vier schwarze Stifte, von denen einer leckte.
    Wimperntusche. Zwei Tampons. Eine halb volle Packung Pfefferminzbonbons – ich steckte mir eins in den Mund, was zumindest den Geschmack des Weins überdeckte.
    Papiertaschentücher. Ein einzelnes Bonbon. Ein Armband aus Glasperlen. Drei schmale Haarbänder, die ich nicht mehr brauchte. Ein Kamm und ein winziger Spiegel. Und ein Stück Alufolie, das zu Boden gefallen war. Ich hob es auf. Wie sich herausstellte, war es ein steifer silberfarbener Blister-Streifen mit zwei Tabletten darin –
    nein, mit einer Tablette, denn die zweite war bereits herausgedrückt worden. Ich hielt den Streifen unter das Licht, um den Aufdruck auf seiner Rückseite lesen zu können: Levonelle, 750-Mikrogramm-Tabletten, Levonorgestrel. Ich verspürte den absurden Drang, die noch vorhandene runde weiße Tablette einfach in den Mund zu schieben, nur um zu sehen, was passieren würde.
    Natürlich tat ich es nicht. Stattdessen machte ich mir eine Tasse Kaffee und rief dann bei Sheila und Guy an, die jedoch nicht zu Hause waren. Ich sprach ihnen aufs Band, dass ich an diesem Abend nicht kommen würde, ihnen aber für alles sehr dankbar sei und mich bald bei ihnen melden würde. Ich schlüpfte in meine

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