In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
der kleinen Teeküche des Instituts.
Er ließ sich auf der Couch in seinem Büro nieder, dessen Einrichtung noch sehr von dem Gründer der Firma geprägt war. Nautische Instrumente standen in einer Vitrine und an der Wand hing eine große Seekarte. Theos Urgroßvater war Kapitän gewesen und hatte, als er in den Ruhestand ging, begonnen, Seebegräbnisse für Matrosen auszurichten – Start einer Dynastie in der nunmehr vierten Generation. Da Theo Medizin studieren wollte, hatte es lange so ausgesehen, als würde die Tradition mit Theos Vater enden.
Er sah die Post durch. Einen Katalog mit den neuesten Sargmodellen legte er zur Seite, ebenso die Rechnung seines Mobilfunkanbieters. Dann hielt er inne, als er eine Postkarte aus Südafrika entdeckte. Sie zeigte ein irgendwie gefährlich aussehendes murmeltierartiges Wesen. Auf der Rückseite stand: »Liebster Theo, kaum zu glauben, aber diese Viecher sind die nächsten lebenden Verwandten der Elefanten. Dassies heißen die Biester und sie sind ganz und gar nicht possierlich, auch wenn das südafrikanische Tourismusamt einen das glauben lassen möchte. Tatsächlich lauern sie ahnungslosen Reisenden auf, um ihnen die Zuckertüten zu rauben, die zum Kaffee gereicht werden. Ich habe ihnen meine kampflos überlassen. Tausend Küsse, Hanna.«
Theo lächelte. Er wusste, dass Hanna ihren Kaffee am liebsten mit sehr viel Zucker trank. Folglich mussten diese Dassies für sie wahrhaft furchterregende Wesen sein.
Hanna war jetzt schon seit mehr als drei Monaten in Südafrika. Und obwohl er und die Journalistin sich seitdem regelmäßig zunehmend vertraulichere E-Mails schrieben, freute er sich doch sehr über jede Postkarte, die sie ihm außerdem schickte. Auch diese hatte sie in der Hand gehabt. An ihr klebten sicherlich noch Hanna-Atome … Was bin ich doch für ein verliebter Trottel, dachte er und legte die Postkarte beiseite.
Als er den letzten Briefumschlag öffnete und das Papier entfaltete, stöhnte er auf. »17 Jahre Abi – Zeit für ein Wiedersehen!«, stand da. Und weiter: »Liebe Exmitschüler, mit Schrecken habe ich festgestellt, dass wir unser 15-jähriges Abitreffen versäumt haben. Aber das ist kein Grund, bis zum 20. zu warten! Leider hat es gedauert, so viele wie möglich von Euch ausfindig zu machen – aber nun steht einem Wiedersehen nichts im Wege. Am 17. Juni um 19 Uhr in der Bar über dem Tivoli-Theater. Gruß Eure Pia.«
Typisch Pia, ein Treffen in einer Wilhelmsburger Lokalität kam für sie nicht infrage, auch wenn immer wieder prophezeit wurde, dass Wilhelmsburg bald ein angesagtes Wohnviertel sein würde. Trotz diverser Renovierungsarbeiten und Umgestaltungen im Zuge der anstehenden Internationalen Bauausstellung kam jedoch der Stadtteil nicht so recht aus dem Tee. Ein Umstand, den Theo nicht ausschließlich negativ bewertete.
Vor ein paar Wochen hatte Pia ihn bereits angerufen und mit dem Jahrgangstreffen gedroht. Und jetzt hatte sie offenbar Ernst damit gemacht. Auch typisch für Pia, die Einladung hochoffiziell mit der Post zu versenden, statt einfach per E-Mail, dachte Theo.
May kam aus der Küche und stellte einen Espresso vor ihn auf den Tisch. Außerdem zwei Teller, auf denen ein süßes Franzbrötchen für Theo und ein mit Käse belegtes Brötchen für sie selbst lagen. Sie bemerkte Theos säuerliche Miene. »Schlechte Nachrichten?« Sie nippte an ihrem Milchkaffee.
Er hielt ihr die Einladung vor die Nase.
»Abitreffen? Mein Beileid.« Sie blickte ihn spöttisch an. »Ich hab mit den Mitschülern damals wenig zu tun gehabt und könnte auch heute noch ganz gut darauf verzichten.«
Das konnte sich Theo allerdings sehr gut vorstellen. May war eine spröde, mitunter kratzbürstige Person. Sie ließ so schnell niemanden an sich heran und stieß die Leute gern vor den Kopf. Dieses Verhalten stand allerdings in scharfem Kontrast zu ihrem einfühlsamen Umgang mit den Hinterbliebenen und Toten, bei dem sich ihre sonst verborgene, sanftmütige Seite offenbarte.
Bei Theo hingegen war die Sache anders gelagert. Zum fünfjährigen Abitreffen, das ebenfalls Pia organisiert hatte, war er noch voller Neugierde gegangen. Er hatte damals gerade als Arzt im Praktikum an der Uniklinik Eppendorf angefangen. Eine Karriere als brillanter Chirurg lag vor ihm und er war seit siebzehn Monaten mit Nadeshda liiert gewesen – für ihn ein absoluter Rekord, was Beziehungen betraf. Die blonde Illustratorin hatte ihm vollkommen den Kopf verdreht. Ganze zwei
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