In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Monate hatte sie ihn zappeln lassen, bis sie ihn endlich mit nach Hause nahm. Das war Theo zuvor noch nie passiert.
Doch mit Nadeshdas Tod war sein Leben komplett aus den Fugen geraten. Die Tatsache, dass er, der Mediziner, weder seine Frau noch die ungeborene Tochter hatte retten können, hatte ihn in eine tiefe Krise gestürzt und ihn in das familieneigene Bestattungsinstitut flüchten lassen.
Nun graute ihm davor, seinen Klassenkameraden von einst von seinem Schicksalsschlag berichten zu müssen. Er verabscheute die mitleidigen Blicke, die verlegene Sprachlosigkeit, die unvermeidlich aufkam, sobald er die Geschichte in dürren Fakten erzählte. In Deutschland hatten die Menschen angemessene Reaktionen auf den Tod verlernt, zumindest solange er nicht alte oder kranke Menschen traf. Jung gestorben wurde anderswo auf der Welt, und falls es doch anders kam, wusste man nicht damit umzugehen.
»Schon komisch«, sagte Theo. »Erst mache ich einen Mitschüler für seine Beerdigung fertig und dann flattert mir diese Einladung ins Haus.«
May biss in ihr Käsebrötchen. »Vergiss es einfach. Kein Mensch zwingt dich, da aufzutauchen.«
Stimmt, dachte Theo und legte den Brief beiseite. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass es ganz anders kommen sollte.
KAPITEL 2
Kurz nachdem May gegangen war, kam ihre Tochter Lilly hereinspaziert: zehn Jahre alt, gewitterschwarze Augen und raspelkurzes Haar. In den Händen trug sie einen Pappkarton.
»Wo sind deine Haare abgeblieben?« Noch am Vortag hatte die Tochter seiner Mitarbeiterin May einen dicken schwarzen Zopf getragen.
»Abgeschnitten.«
»Aha.«
»Haben mich genervt.«
Theo wunderte sich nicht. Lilly war ein ungewöhnlich entschlossenes kleines Mädchen.
Sie hielt ihm den Pappkarton unter die Nase.
»Was ist das, ein Geschenk?«
»Nicht direkt.« Sie klappte den Deckel hoch und gab den Blick auf einen toten Hamster frei.
»Wo hast du den denn her?« Theo wusste, dass May Haustiere unhygienisch fand.
»Der gehört Melinda-Marie.«
Was für Namen manche Leute ihren Kindern geben, dachte Theo.
»Sie hat geheult und da hab ich ihr versprochen, dass der Hamster ein ordentliches Begräbnis kriegt.«
»Und wo steckt diese Melinda-Marie?«
Lilly nickte in Richtung Tür. »Draußen. Die traut sich nicht rein, weil es hier doch Tote gibt«, sagte sie und verdrehte die Augen.
Melinda-Marie entpuppte sich als pummeliger blonder Lockenschopf, der Theo neugierig anstarrte.
»Sie sehen gar nicht aus wie ein Bestatter.«
»Ach nein?« Theo war amüsiert. Er war verblüffte Reaktionen gewöhnt. Er war sechsunddreißig Jahre alt, schlank mit dunklen Locken und einem Lächeln, das Frauen dahinschmelzen ließ – zumindest, bis sie erfuhren, womit er sein Geld verdiente. Nur Hanna schien das nicht abzuschrecken. Als Journalistin fand sie seinen Beruf vor allem spannend.
»Wir dachten, du könntest Mäxchen einfach mit in einen Sarg schmuggeln.« Lilly blickte ihn treuherzig an. »Du hast doch gestern die alte Frau Menck fertig gemacht. Die hat Tiere so gern gehabt. Das weiß ich.«
»Na, ihr kommt vielleicht auf Ideen.«
Stattdessen beerdigte Theo den Hamster hinterm Haus, das sich nur wenige hundert Meter vom Bestattungsinstitut entfernt befand. Auch das war zwar wegen des hohen Grundwasserspiegels auf der Elbinsel Hamburg-Wilhelmsburg eigentlich nicht erlaubt. Aber Theo war zuversichtlich, dass so eine klitzekleine Hamsterleiche keinen Schaden anrichten würde.
Glücklicherweise machte der Regen eine Pause. Nachdem die Mädchen das Grab mit einem Holzkreuz und Blumen geschmückt hatten, zog Melinda-Marie zufrieden davon.
»Und was ist mit dir?«, fragte Theo.
»Kann ich mir mal deinen neuen Toten angucken?« Lilly warf ihm einen bettelnden Blick zu.
»Kommt nicht infrage.«
»Ach komm schon, Theo. Mama hat gesagt, der ist an einer seltenen Krankheit gestorben, und ich will doch mal Ärztin werden.« Lilly zog eine Flunsch.
»Der sieht aus wie alle anderen Toten auch. Und Leichen sind keine Ausstellungsstücke.«
Lilly kapitulierte. Meistens bekam sie Theo herum. Manchmal aber biss sie auf Granit. Sie wusste, wann es so weit war. »Und woran ist der jetzt eigentlich gestorben?«
»Tollwut.«
Lilly riss beeindruckt die Augen auf. »So richtig mit Schaum vor dem Mund?«
»Vermutlich. Den haben die im Krankenhaus aber schon abgewaschen. Der ist nämlich ziemlich ansteckend.«
»Und woher kommt der Schaum eigentlich?«
Theo ergab sich in sein Schicksal. Er
Weitere Kostenlose Bücher