In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
unserer ehemaligen Mitschüler auftaucht, und fühlen ihm dann auf den Zahn.«
Obwohl Theo Gesicht für Gesicht in den Bankreihen musterte, kam ihm niemand verdächtig vor. Er kannte zwar viele der Anwesenden, aber aus der gemeinsamen Schulzeit war niemand darunter. Offenbar hatte Sebastian zu keinem mehr Kontakt gehabt, was angesichts der Schreckensherrschaft der Dreierbande, wie Theo sie im Stillen in Anlehnung an die berüchtigte Viererbande der chinesischen Kulturrevolution nannte, auch nicht verwunderlich war. Auch Nathalie war nicht aufgetaucht. Die wollte mit ihrer unrühmlichen Vergangenheit ganz sicher nichts zu tun haben. Theo ließ die Trauerrede über sich hinwegrauschen. Er ließ lieber seine Gedanken zu Hanna wandern, die er seit dem Morgen nicht gesprochen hatte. Sie hatte ihn zwar mit Kaffee, aber ohne Frühstück vor die Tür gesetzt. Ich muss arbeiten, hatte sie als Erklärung gesagt. Theo wusste zwar, dass sie ein Morgenmuffel war, aber er machte sich trotzdem Gedanken. Irgendwie bekam er die Frau nicht richtig zu fassen.
»So nimm denn meine Hände und führe mich, bis an mein selig Ende und ewiglich«, sang der Chor. Wie in den meisten Kirchenchören war auch in der Kreuzkirche die Zahl der älteren Damen mit leicht zittrigem Sopran überproportional vertreten. Aber sie schlugen sich wacker.
Nachdem der letzte Ton der Orgel verhallt war, nickte der Pfarrer Theo zu, der daraufhin den Sargträgern einen Wink gab. Neben Theos Lieblingsgehilfen Kurti waren noch drei kräftige Studenten da, die sich mit dem ungewöhnlichen Job ihr Budget aufbesserten. Die jungen Männer traten vor und stemmten routiniert den Sarg in die Höhe. Die Mutter des Toten erhob sich und schloss sich an. An ihrer Seite ging ihr Lebensgefährte, ein magerer Mann mit schütterem Haar. Sebastians Vater, so wusste Theo, hatte schon vor Jahren den denkbar größten Abstand zwischen sich und seine Exfrau gebracht und war nach Neuseeland ausgewandert. Zur Beerdigung seines Sohnes war er nicht erschienen. Theo bemerkte, dass die junge Witwe noch immer in der Bank saß und auf den Punkt starrte, auf dem der Sarg gestanden hatte. Er ging zu ihr hinüber und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen.
»Kommen Sie, Frau Klasen.«
Verwirrt sah sie ihn an, dann erhob sie sich und packte ihre Kinder links und rechts bei den Händen. Wie eine Schlafwandlerin folgte sie dem Sarg. Die Gemeinde schloss sich an.
Der Weg zum Grab war nicht weit. Es war ein hübsches Plätzchen neben einem blühenden Heckenrosenbusch. Die vielen Trauergäste fanden nur mit Mühe Platz auf den schmalen Wegen des alten Friedhofs, der direkt an die Kirche grenzte. Während der Pfarrer seinen letzten Segen sprach, ließ Theo erneut den Blick über die Menschen schweifen. Noch immer sah er niemanden, dessen Anwesenheit ihn überrascht hätte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Hinterbliebenen zu. Die Witwe machte einen unsicheren Schritt ans Grab. Sie blickte auf die Rose, die ihr die Schwiegermutter in die Hand gedrückt hatte, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Dann ließ sie sie ins Grab fallen. Auch die Tochter und der kleine Sohn warfen ihre Blumen hinterher. In seinem dunkelblauen Anzug erinnerte der Kleine Theo an den Sohn von JF Kennedy, der vor dem Sarg seines Vaters für die Weltöffentlichkeit hatte salutieren müssen.
Theo drückte der Witwe aufmunternd die kalte Hand. Sie sah aus, als würde sie gleich zusammenklappen. »Gleich haben Sie es überstanden«, sagte er leise.
Ihr Blick kam von weither. »Ich halte das hier nicht länger aus.« Dann wandte sie sich um und verließ, die beiden Kinder hinter sich herziehend, den Friedhof.
»Sabine«, rief die Schwiegermutter empört. Doch die junge Witwe beachtete sie nicht.
Mit versteinertem Gesichtsausdruck nahm die Schwiegermutter allein die Beileidsbekundungen entgegen. Nach und nach löste sich die Menge auf. Erst als auch die alte Frau Klasen den Friedhof verließ, bemerkte Theo eine schlanke Gestalt, die unbeweglich in einiger Entfernung vom Grab stand.
»Das ist doch Benno«, hörte er Lars neben sich sagen. Als Theo auf den Mann zuging, drehte dieser sich um und eilte davon.
Damals
Benno Konradi war wütend. Er spürte, wie der Zorn in großen giftigen Blasen in ihm aufstieg. Das war gar nicht gut. »Na, Benno«, sagte der Mathelehrer gutmütig, »kriegst du es heute noch hin?« Benno presste die Lippen aufeinander. Eigentlich war er in Mathe gar
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