In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
»Ich weiß es nicht«, brüllte sie, »und es ist mir auch völlig egal.« Der Ausbruch schien die letzten Kraftreserven aufgebraucht zu haben. Mit einem Mausklick wurde vorgespult.
Zehn Stunden später war das Stadium des Deliriums erreicht. Ein Lichtbalken fraß sich in das Dämmerlicht. Ein Schatten betrat den Raum. Das Biest hielt sich die Augen zu, geblendet vom ungewohnten Licht, das hinter dem Schatten in das Verlies strömte. »Du kannst gehen«, sagte der Schatten. Die Bestie zögerte. Dann kroch sie langsam auf den Ausgang zu. Der Schatten auf dem Monitor straffte sich. Er wusste, das war ein kritischer Moment. Die Bestie könnte sich ein letztes Mal aufbäumen, ihn anfallen. Doch der Schatten wusste, dass er auch eine solche Situation unter Kontrolle haben würde. Das Biest schob sich an ihm vorbei ins Freie. Dort taumelte es der Straße entgegen. Der Schatten folgte lautlos. Das Biest würde nichts mehr verraten können. Zu angegriffen war sein Hirn von dem tödlichen Virus. Andererseits wollte der Schatten sichergehen, dass er nicht in allzu großer Nähe des Verlieses gefunden wurde. Ein paar Mal hatte er darum eingegriffen, wenn der erschöpfte Leib des Sterbenden sich nicht mehr weiterschleppen wollte. Eine halbe Stunde später ließ er ihn liegen. Es würde nicht allzu lange dauern, bis man ihn fand.
Der Schatten stellte die Aufnahme aus. Es war bald Zeit, die letzte Bestie zu erlegen. Diesmal würde er kein leichtes Spiel haben. Die Gegnerin war schlau und vielleicht bereits durch das Schicksal ihrer Kumpane vorgewarnt. Aber das würde ihr nichts helfen. Am Ende würde der Schatten sie sich doch holen.
KAPITEL 9
Die vier lebensgroßen Apostel, die das Kreuz flankierten, blickten milde auf die versammelten Trauergäste. Die Kreuzkirche, die zu dem Ensemble der ältesten erhaltenen Gebäude Wilhelmsburgs gehörte, war bis auf den letzten Platz belegt. Bei Beerdigungen war das eher selten der Fall. Theo vermutete, dass die Leute weniger wegen des Verstorbenen selbst als auf Betreiben seiner Mutter erschienen waren. Renate Klasen sang im Chor und war auch sonst ein hochaktives Mitglied der Gemeinde. Ihr war es sogar gelungen, einen der raren Plätze auf dem angrenzenden alten Friedhof für ihren Sohn zu ergattern. Renate Klasen war eine jener Frauen, die bekamen, was sie wollten – und ihr war dafür jedes Mittel recht.
Der Sarg mit Sebastians sterblichen Überresten stand vor dem weißen Altar aufgebahrt. Auch die Kiste aus massiver Eiche hatte nicht etwa seine Frau ausgesucht, sondern die Mutter höchstpersönlich. Ebenso, was der Tote tragen sollte, den Blumenschmuck und die Musik. Sabine Klasen, die zerbrechlich wirkende Frau des Toten, hatte bei den Besprechungen zu allem geschwiegen und aus dem Fenster gestarrt. Ihre Teilnahmslosigkeit hatte Theo Sorge bereitet. Häufig überrumpelte die Trauer die Hinterbliebenen dann später umso heftiger, wie ein Tsunami. Nur an einer Stelle hatte sie überraschend aufbegehrt. »Ich werde kein Schwarz tragen und die Kinder auch nicht.« Die empörten Interventionen ihrer Schwiegermutter hatte sie einfach an sich vorbeirauschen lassen und wieder aus dem Fenster geschaut.
Jetzt saß sie in ein helles schlichtes Sommerkleid gehüllt in der ersten Reihe des Kirchengestühls. Obwohl es kühl war, trug sie keine Jacke. Theo stand so nah bei ihr, dass er sehen konnte, dass ihre Arme bläulich verfärbt und von Gänsehaut überzogen waren. Sie schien es nicht zu bemerken. Links und rechts zu ihren Seiten saßen die Kinder. Das Mädchen drückte sich an die Mutter und starrte mit großen Augen auf den Sarg. Der Junge war noch zu klein, um wirklich zu verstehen, was geschah. Er baumelte mit den kurzen Beinen und summte eine fast unhörbare Melodie. Seine Großmutter, die am Mittelgang saß, warf ihm und ihrer Schwiegertochter verärgerte Blicke zu, die aber keinerlei Reaktion auslösten. Als die ersten Töne der schönen alten Kirchenorgel erklangen, wandte sie sich mit einem Ruck nach vorn und starrte verbissen auf das Kreuz am Altar. Irgendjemand musste ja Schuld haben an der Misere.
Theo nutzte seinen Beobachtungsposten, um den Blick über die Menge schweifen zu lassen. Lars hatte sich auf der Empore platziert.
»Vielleicht kommt der Mörder ja und ergötzt sich an der Beerdigung.« Lars war ein großer Krimifan.
»Fragt sich nur, woran wir ihn erkennen sollen. Er wird sich wohl kaum durch höhnisches Gelächter verraten.«
»Wir schauen einfach, ob einer
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