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In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

Titel: In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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nicht mal so schlecht, aber immer wenn er an die Tafel gerufen wurde, machten Sebastian und Reinhold hämische Bemerkungen. »Guck mal, die Giraffe will rechnen«, hatte Sebastian gesagt und wiehernd gelacht. Das Problem war, dass seine Lache so ansteckend war. Inzwischen kicherte die halbe Klasse unterdrückt, obwohl die Bemerkung an sich nicht besonders originell gewesen war. Bennos Kopf war wie leer gefegt. Er presste die Kreide auf die Tafel, bis sie in zwei Teile zerbrach.
    »Sebastian, wenn du das so witzig findest, dann komm nach vorne und mach es besser.«
    »Klaro.« Sebastian schlenderte zur Tafel. Feixend pflückte er Benno die Kreide aus der Hand. »Lass mich mal ran, Flecki.« Flecki, so nannten ihn die anderen schon lange, denn Bennos Gesicht und Körper waren an manchen Stellen unpigmentiert. Seine Haut sah aus wie die Landkarte eines unbekannten Planeten. Weißfleckenkrankheit nannte man diese Hauterscheinungen. Im Alter von zehn Jahren war es losgegangen und seither hatten sich die weißen Flecken weiter ausgebreitet. Er hatte sich schon immer dafür geschämt, doch seit Nathalie in die Klasse gekommen war, klang der ungeliebte Spitzname noch viel boshafter. Bis jetzt war es ihm gelungen, sich keinerlei Reaktion entlocken zu lassen. Sein größter Sieg war es, sich nicht durch die Hänseleien provozieren zu lassen. Ausdruckslos starrte er Sebastian in die Augen.
    »Huh, da krieg ich ja richtig Angst«, sagte der und löste die doppelte Quadratwurzel an der Tafel. Benno ging zu seinem Platz zurück. Die pummelige Sanna warf ihm einen aufmunternden Blick zu. Sie hatte auch unter Nathalie und ihren Schergen, wie Benno Sebastian und Reinhold für sich nannte, zu leiden. Er mochte sie sehr.
    Schwer ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. Mit unbewegter Miene schaute er Sebastian zu, wie er eine weitere Aufgabe löste. Er hasste die Typen. Sein Blick wanderte zu Nathalie, die versonnen vor sich hin lächelte. Die blonde Schneekönigin hasste er noch mehr als ihre Schergen. Manchmal hatte er das Gefühl, vor Hass zu ersticken. Er stellte sich vor, wie er sie an ihrem blonden Zopf packen und sie so lange ins Gesicht schlagen würde, bis von der hübschen Fratze nichts mehr übrig war. Seit Nathalie die Herrschaft über die Klasse an sich gerissen hatte, waren seine Noten ständig schlechter geworden. Wut und Furcht machten ihn blind und taub für das, was im Unterricht geschah. Die Anstrengung, sich seine Gefühle um keinen Preis anmerken zu lassen, verlangte seine volle Aufmerksamkeit und kostete ihn den Großteil seiner Energie. Es war ein Machtkampf zwischen ihm, Nathalie, Reinhold und Sebastian, der bislang unentschieden stand. Sie provozierten ihn, er blieb stoisch. Fragte sich nur, wie lange noch.
    »Benno«, sagte Lars nachdenklich, »der hat doch Nathalie damals fast umgebracht.« Theo nickte. Die Geschichte hatte er fast vergessen.
    Es war irgendwann zu Beginn der Oberstufe gewesen. Sie hatten eine Projektfahrt mit dem Biologie-Leistungskurs ins Wattenmeer gemacht. Es ging darum, das Ökosystem in seiner Gesamtheit zu erfassen, vom Wattwurm bis zur Robbe gewissermaßen. In der freien Zeit hatten sie in den Dünen vor dem Nordseewind Schutz gesucht oder in dem flachen Wasser geplanscht. Und dabei war es passiert. Keiner hatte erfahren, was Nathalie zu Benno gesagt hatte, aber das hatte Bennos aufgestaute Wut offenbar explodieren lassen. Theo erinnerte sich an Nathalies verzweifelt rudernde Arme, als Benno sie in das flache Wasser gedrückt hatte. Es waren drei Jungen und der Lehrer notwendig gewesen, um Benno von dem Mädchen wegzuziehen. Am unheimlichsten war, dass Benno während der ganzen Zeit nicht einen Laut von sich gegeben hatte. Es war das einzige Mal gewesen, dass Theo Nathalie fassungslos erlebt hatte. Sie hatte geheult und Sand gespuckt, Gesicht und Haare waren schlammverschmiert.
    »Er ist danach von der Schule geflogen, oder?«
    Theo nickte.
    »Vielleicht will er jetzt zu Ende bringen, was er damals angefangen hat.«
    »Könnte schon sein.«
    Sie gingen zum Gasthaus Sohre, das schräg gegenüber der Kirche lag und fast genauso alt wie diese war. Die Mutter des Verstorbenen hatte zum Leichenschmaus geladen. Es gab Häppchen mit Lachs oder Rindertatar, Mozzarella oder Roquefort und Birne, die inzwischen auch bei Sohre Fingerfood hießen.
    Ein mageres Mädchen steuerte direkt auf Theo zu. »Herr Dr. Matthies, haben Sie einen Moment«, piepste sie und packte ihn eifrig am Arm. In der anderen

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