In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
nicht selbst …«
Haucke lachte. »Nein, wirklich nicht. Dann sähe es hier ziemlich wüst aus.« Er wurde wieder ernst. »Ich sehe, was ich tun kann.«
Am Empfang erstand Theo für fünfzehn Euro das Shirt mit der gefährlich aussehenden Mückensilhouette. Er bemerkte nicht, dass ihn jemand beobachtete. Sieh an, Theo Matthies, dachte der Schatten. Dann schob er sein Putzwägelchen weiter. Reinigungskräfte waren unsichtbare Wesen. Niemand beachtete sie. Das war ihm absolut recht.
Damals
Das Mädchen sah an sich herab. Der weiße Bauch wölbte sich unter ihren kleinen Brüsten. Er ruhte auf ihren Oberschenkeln, die im Sitzen noch dicker aussahen als sonst. Sie beugte sich vor, sodass sich zusätzliche Speckringe bildeten. Grob packte sie das Fleisch mit beiden Händen und schob es zusammen. Tiefe Grübchen tauchten nun überall in der weißen Masse auf. »Eklig«, sagte sie leise und voller Selbsthass, »eklig, schwabbelig, widerlich.« Sie ließ den Wasserkasten rauschen und erhob sich von der Klobrille. Mühsam knöpfte sie ihre Jeans zu. Zweifellos war sie schon wieder dicker geworden. Trotzig blinzelte sie die Tränen weg. Na und? Auf noch ein paar Kilos mehr kam es nun auch nicht mehr an. Sie wusch sich die knubbeligen Hände und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Dann kniff sie sich in die runden Wangen. Auch die dunklen Augen mit den langen Wimpern und der schön geschwungene Mund konnten sie nicht mit ihrem Spiegelbild versöhnen. Sie zog das übergroße T-Shirt herunter und ging hinaus. Obwohl es noch früh am Morgen war, war ihr schon heiß. Im letzten Jahr hatte sie den Sommer hassen gelernt. Sie mochte keine Shorts anziehen und keine ärmellosen Shirts. Und obwohl sie eine gute Schwimmerin war, traute sie sich schon lange nicht mehr ins Freibad. Sie schämte sich für ihren Körper, sie hasste ihn. Im Winter konnte sie ihn unter dicken Pullovern halbwegs verbergen. Aber der Sommer kannte keine Gnade. Immerhin waren es nur noch drei Wochen bis zu den Ferien. Noch drei Wochen, dann hatte sie endlich wieder Ruhe vor ihren Peinigern.
Heute musste sie erst zur zweiten Stunde in die Schule. Die Eltern und Carlotta waren bereits aus dem Haus. Sie ging in die Küche und öffnete die Brotdose, die ihre Mutter ihr hingestellt hatte. Zwei dünne Scheiben Vollkornbrot mit Putenschinken und rohe Karottenschnitze. Sie verzog das Gesicht. Sie schnappte sich einen Küchenstuhl und kletterte hinauf. In der obersten Klappe des Vorratsschranks verwahrte die Mutter die Schokoriegel. Sie nahm sich zwei und verstaute sie schnell im Ranzen. So kam sie nicht in Versuchung, sie jetzt gleich zu verspeisen. Auf dem Weg zur Schule trat sie kräftig in die Pedale. Im Vergleich zu sonst war sie richtiggehend gut gelaunt. Heute Nachmittag hatte sie Ballettunterricht. Für sie war das der Höhepunkt der Woche. Obwohl sie weit entfernt davon war, die Erscheinung einer Ballerina zu haben, liebte sie die zwei Stunden am Mittwochnachmittag über alles. Tanzen war etwas, worin sie wirklich gut war. Das wusste sie. Wenn die ersten Töne erklangen und sie die Anweisungen ihrer Lehrerin hörte, wurde sie eins mit der Musik. Trotz der vielen Spiegel um sich herum vergaß sie ihre Figur, ihren Kummer und tanzte, tanzte, tanzte.
»Petit battement sur le cou-de-pied«, »Port de bras« – das französische Vokabular für die verschiedenen Figuren waren magische Worte für sie. Sie lächelte. In der vergangenen Woche hatte sie unermüdlich geübt. »Entrechat quatre« war ein schwieriger Sprung, bei dem man die Füße zwei Mal in der Luft kreuzen musste, um wieder in der Ausgangsposition zu landen. Inzwischen bekam sie es ganz gut hin. Der Sprung war ein wesentlicher Teil eines anspruchsvollen neuen Stücks, das sie derzeit einstudierten: Die drei kleinen Schwäne aus Schwanensee mussten schnell und präzise getanzt werden, in perfektem Gleichtakt dreier Ballerinen. Sie beherrschte die schnelle Schrittfolge inzwischen recht gut, auch wenn sie wusste, dass die Lehrerin ihr keine dieser Rollen für die große Weihnachtsaufführung anbieten würde. Wer wollte schon ein tanzendes Nilpferd sehen?
In der Schule angekommen, setzte sie sich direkt auf ihren Platz in der letzten Reihe. Sie schaute nicht nach rechts oder links. Manchmal half das, und Nathalie, Reinhold und Sebastian ignorierten sie. Der Platz ihr gegenüber war schon ein paar Tage frei. Dort saß normalerweise Sylvia. Die Dicke, die Oberschlaue, der Stotterer Benno und der
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