In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Leben nicht. Keinen Mann, keine Kinder. Nur ein von Arbeit und anderen Verpflichtungen durchgetaktetes Programm. Schon bald könnte sich der fehlende familiäre Hintergrund als Karrierehindernis erweisen. Immerhin hatte sie nie Mühe, einen Begleiter zu finden, für die Abende und fürs Bett. Die Liaisons hielten meist ein bis zwei Jahre und waren von gegenseitigem Vorteil, angenehm, aber ohne Tiefgang. Zurzeit gab es allerdings niemanden, sodass ihr Vater sie begleiten würde. Sie wusste, dass er es genoss.
Dass sie hier saß und über ihr Leben grübelte, war untypisch für sie. Theos Besuch und der Eklat auf dem Klassenfest hatten sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Sollte es irgendwo da draußen tatsächlich jemanden geben, der ihr auflauerte? Der Gedanke kam ihr lächerlich vor. Viel zu melodramatisch für das nüchterne Leben, das sie führte. Andererseits war der mysteriöse Tod ihrer beiden Freunde aus grauer Vorzeit tatsächlich unerklärlich – wenn man Theos wüste Theorie nicht in Betracht zog. Ein mörderischer Racheengel? Sie schüttelte den Kopf, stand auf und strich die taubenblaue Seide ihres Kleides glatt. Es passte perfekt zu ihren Augen.
Ihr Vater betrat das Zimmer. Er war früh gekommen, um sie auch rechtzeitig abzuholen. Er musterte sie mit prüfendem Blick. Einmal mehr stellte er fest, dass sich die Mühen der strengen Erziehung ausgezahlt hatten: Disziplin, Ehrgeiz und Stil. Manchmal dachte er, dass der frühe Tod seiner Frau in dieser Hinsicht sein Gutes gehabt hatte. Sie hatte Nathalie viel zu sehr verzärtelt. So hatte er seine Tochter zu genau der Persönlichkeit formen können, die er vor Augen gehabt hatte: überragend intelligent, erfolgreich und von erlesener Eleganz.
»Du siehst großartig aus, Nathalie.« Er gab ihr einen trockenen Kuss auf die Wange.
Sie lächelte nicht. Jedes Lob von ihm war teuer erkauft.
Nur wenige Kilometer von ihr entfernt machte sich auch der Schatten bereit für den Abend. Er konnte nicht sicher sein, ob es heute klappen würde. Anders als Reinhold und Sebastian war Nathalie Stüven immer von Menschen umgeben. Aber irgendwann würde er eine Chance bekommen und zuschlagen. Wenn nicht heute, dann bei einer anderen Gelegenheit. Es war alles vorbereitet. Nathalie hatte er sich bis zum Schluss aufgespart. Bestimmt hatte sie der schreckliche Tod ihrer beiden Schergen von einst nervös gemacht. Das machte die Sache schwieriger, aber auch reizvoller.
Er zog noch einmal die Schublade seines Schreibtisches auf. Dort lag, auf ein Samtpolster gebettet, der Fledermausschädel. Er war mit einer Konstruktion versehen, sodass man ihn wie eine Kneifzange bedienen konnte. Ein bisschen übertrieben vielleicht, die Inszenierung, aber so ein bisschen Show gehörte dazu, dachte er. Heute hatte er mit Befriedigung die Schlagzeile im »Hamburger Abendblatt« gelesen: »Tollwut in Wilhelmsburg – bereits zwei Tote«.
In dem Spiegel, der in den alten Schrank eingelassen war, überprüfte er seine heutige Maskerade. Sie war perfekt. Er würde mit der Masse der herausgeputzten Hamburger High Society tadellos verschmelzen – ein Schattenwesen eben.
Nathalie langweilte sich. Opern – und Wagner insbesondere – waren noch nie ihr Fall gewesen. Zu bombastisch. Zu emotionsgeladen. Sie setzte eine aufmerksame Miene auf und schaltete innerlich ab. Die Fähigkeit, Langeweile zu ertragen, war eines der wichtigsten Charaktermerkmale eines erfolgreichen Politikers. Endlose Sitzungen, Gespräche mit unglaublich faden Personen, denen man Interesse heucheln musste, weil man sie sich gewogen machen wollte.
Idealismus hingegen war ein Hindernis, obwohl er das war, was viele in die Politik trieb. Wer sich nicht damit arrangieren konnte, die eine oder andere moralische Grenze zu überschreiten, der wurde im Mahlwerk der politischen Fronten unweigerlich aufgerieben. Außerdem musste man über eine schier endlose Geduld verfügen – Politik zu betreiben war wie durch einen zähen Sumpf zu waten, unendlich langsam und mühsam kam man Schritt für Schritt voran. Gleichzeitig musste man immer wachsam sein, Gefahren und Chancen erkennen und blitzschnell reagieren. Das war das eigentlich Interessante an dem Geschäft, das und die Macht, die damit einherging. Entscheidungen zu treffen, die das Leben von Millionen Menschen verändern würden. Nathalie war noch sehr jung für ihre Position. Sie beabsichtigte, weit zu kommen. Ganz nach oben.
Die Oper strebte ihrem dramatischen Höhepunkt zu.
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