In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
ihn über den Rand ihrer Brille hinweg. In der Ambulanz des Tropeninstituts konnte man sich reisemedizinisch beraten und die notwendigen Schutzimpfungen für den Aufenthalt in exotischen Ländern verpassen lassen. Theo überlegte, ob die Dame schon zu seinen Studienzeiten dort gesessen hatte, konnte sich aber nicht erinnern.
»Nein, ich werde von Dr. Reimers erwartet.«
Während sie in der Telefonliste nachschaute, betrachtete er ein Modell des Gebäudes, das in einem Glaskasten ausgestellt war.
»Herr Dr. Reimers kommt gleich«, sagte sie und reichte Theo einen Besucherausweis. Ohne einen solchen durfte sich niemand in dem Gebäude bewegen – das war Teil des Sicherheitskonzepts, auch dass das Portal der einzige Zugang zu dem weiträumigen Gebäude an der Hafenstraße war. An der Empfangsdame und ihren Kollegen kam niemand ungesehen vorbei.
Haucke Reimers arbeitete seit sechs Jahren in dem Institut. Theo hatte ihn aus dem Studium als fröhlichen Typen mit schrägem Humor in Erinnerung. Als er jetzt um die Ecke bog, strahlte er übers ganze sommersprossige Gesicht. »Mensch, Theo, das ist ja Ewigkeiten her.«
Mit den halblangen rötlichen Locken und der Nickelbrille sah er noch genauso aus wie vor zehn Jahren. Er lotste ihn durch die Gänge, an deren Wänden bunte Bilder von elektronenmikroskopischen Aufnahmen diverser Krankheitserreger hingen: Malariaparasiten, Fadenwürmer, Ebolaviren …
»Wunderschön, was?« Reimers deutete auf ein besonders tödliches Exemplar der Malaria tropica.
Durch eine geöffnete Tür konnte Theo in ein Labor sehen. Auf einem langen Tisch standen dort zahlreiche Becher mit gelblicher Flüssigkeit. In ihnen waberte Leben. »Mückenlarven«, erklärte Haucke. »Die Kollegen untersuchen gerade, ob unsere heimischen Arten Tropenkrankheiten übertragen können, sobald der Klimawandel voll zuschlägt.«
Ein Mann in weißer, mit Epauletten geschmückter Kluft nickte Haucke zu. Theo erinnerte sich, dass das Institut auch von Wissenschaftlern der Bundeswehrhochschule genutzt wurde.
Haucke öffnete die Tür zu seinem winzigen Büro. In den deckenhohen Regalen herrschte ein Chaos aus Büchern und Akten. Der Blick aus dem Fenster über den Hafen war atemberaubend.
»Komm, setz dich. Was kann ich für dich tun? Du hast mich ganz schön neugierig gemacht.«
Theo berichtete.
»Ich weiß, es hört sich total abwegig an, aber das ist die einzige Erklärung, die mir einfällt.«
»Und du meinst allen Ernstes, irgendjemand ist hier reinspaziert und hat sich mit einem Röhrchen voller Tollwutviren in der Tasche aus dem Staub gemacht?« Haucke lachte. »Völlig ausgeschlossen. Mensch Theo, du weißt doch, wie wir hier arbeiten!«
»Aber Tollwut fällt doch sicher nicht unter die höchste Sicherheitsstufe?« Wie Theo wusste, waren die scharfen Kontrollen der Stufe vier nach menschlichem Ermessen kaum zu überwinden. Zugang zu dem Labor hatten nur wenige. Wer mit den hochgefährlichen Viren arbeitete, musste das schon zu seinem eigenen Schutz in einem luftdichten Raumfahreranzug tun, in dem es niemand länger als zwei Stunden aushielt. Jeder Handgriff wurde überwacht – nicht nur von zwei Kollegen, sondern auch von mehreren Videokameras.
»Nein, natürlich nicht. Tollwut hat nur Stufe 3.«
»Das heißt, du könntest ein Röhrchen mit Viren mitgehen lassen?«
Haucke massierte seinen Nasenrücken. »Worauf willst du hinaus?«
»Auf nichts Spezielles, ich sondiere nur die Lage.«
Sie schwiegen einen Moment.
»Hör mal, Haucke, ich habe zwei Tollwuttote.«
»Ach, sind die bei dir gelandet?« Haucke war natürlich informiert.
Theo nickte ungeduldig. »Was du aber nicht weißt, ist, dass die beiden Toten sich kannten, obwohl sie vermutlich seit Jahren keinen Kontakt hatten. Sie waren beide keine sonderlich angenehmen Zeitgenossen. Und beide hat die angebliche Fledermaus quasi an exakt der gleichen Stelle gebissen.«
Haucke lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Du glaubst, jemand hat sie … beseitigt? Mit Tollwutviren?« Er nahm die Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. Dann setzte er sich aufrecht hin. »Also gut. Wenn ich wollte, könnte ich hier wohl so ein Ding rausschmuggeln. Problemlos.«
»Kannst du mir eine Liste der Mitarbeiter machen, die an das Zeug rankommen könnten?«
»Hier gibt es rund hundert wissenschaftliche Mitarbeiter. Hinzu kommen die Kollegen aus der Verwaltung.«
»Und putzen tut ihr eure Labors vermutlich auch
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