In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Süßigkeiten verzehrte. Und ihr Vater, der mit Mitte vierzig noch schlank und rank war dank eiserner Disziplin und regelmäßigen Joggens. Nur sie war schon immer »ein bisschen kräftig« gewesen, wie ihre Mutter es nannte. Das Mädchen hasste sie manchmal dafür und erst recht, weil sie so mühelos schlank blieb. Und ihren Vater hasste sie für seinen eisernen Willen, den er jedem aufzwang, und dafür, dass er für Disziplinlosigkeit keinerlei Verständnis hatte. Manchmal grollte sie sogar ihrer kleinen Schwester, wenn die sich darüber beschwerte, noch keinerlei Anzeichen von Busen bei sich entdecken zu können, aber so richtig hassen konnte sie sie dann doch nicht. Carlotta war der einzige Mensch auf der Welt, der sie bedingungslos liebte und bewunderte.
Immerhin war der Vater so gnädig gewesen, sie wenigstens mit dem Auto bis zur Mengestraße mitzunehmen, wo er seine orthopädische Praxis hatte. Der Fußmarsch von dort zur Schule dauerte aber noch immer fast eine halbe Stunde. Auf der Brücke, auf der sie die Bahngleise überquerte, war der Wind besonders schlimm. Sie war froh, als sie endlich beim Wilhelmsburger Bahnhof angelangt war. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie gut in der Zeit lag. Sie wollte nicht zu spät kommen, aber auch keinesfalls zu früh. Ihr Magen zog sich zusammen, wenn sie an Sebastian und Reinhold dachte. Mit diesem jämmerlichen Frühstück und den zwei Äpfeln in ihrer Schultasche würde sie den Tag keinesfalls überstehen. Als sie um die Ecke des Einkaufszentrums bog, traf der Wind sie mit voller Wucht. Hier blies er immer doppelt so stark – die ganze Anlage war eine architektonische Fehlkonstruktion. Sie flüchtete sich in die Bäckerei. »Zwei Negerkussbrötchen bitte«, sagte sie. Die Verkäuferin halbierte zwei frische Brötchen und zerquetschte dann jeweils einen Negerkuss zwischen zwei Hälften. Eigentlich hießen die jetzt politisch korrekt »Schokoküsse«. Der Duft der Backwaren machte sie ganz schwindelig. »Und dann noch zwei Rumkugeln bitte«, sagte sie. »Eine für mich und eine für meine Freundin«, setzte sie nach, um nicht zu gierig zu erscheinen. Sie liebte die klebrigen, schweren, süßen Kugeln. Sie würde sie heimlich essen müssen.
»Wie eklig«, hatte Nathalie neulich gesagt, als sie sie mit einer Rumkugel in der Hand erwischt hatte. »Weiß die denn nicht, dass die aus Kuchenkrümeln gemacht werden, die man am Boden zusammenfegt?« Nathalie sprach nie direkt mit ihr. Sie sprach nur in der dritten Person über sie. Als wäre sie taub oder schwachsinnig. Draußen vor der Tür packte sie das erste Brötchen aus und biss hinein. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Es war wie verhext: Erst seit Nathalie und die anderen sich über ihre Figur lustig machten, war sie wirklich dick geworden. Je mehr sie versuchte, sich zu zügeln, desto grimmiger war die Lust auf Essen. Und das Abnehmprogramm, das ihr Vater ihr verordnet hatte, schien die Sache nur noch schlimmer zu machen. Sie blickte noch einmal auf die Uhr: noch immer ein bisschen zu früh. Im Fenster des Krimskramsladens Pfeiffer war wie üblich ein Sammelsurium von Scherzartikeln ausgestellt: Hundehaufen aus Gummi, Furzkissen, mit Essig gefüllte Pralinen. In dem winzigen vollgestopften Laden konnte man aber auch Süßigkeiten kaufen: schon etwas runzelige weiße Zuckerschaummäuse, Lakritzpfeifen, Salinos, das Stück für fünf Pfennig. Und Schokoriegel. Sanna hatte den Laden schon immer gemocht. Als Kind hatte sie es geliebt, mit einem kleinen Pappteller und Zange bewaffnet, ein persönliches Sortiment an Leckereien zusammenzustellen. Der »Bonscheonkel«, wie Manfred Pfeiffer von vielen genannt wurde, behandelte auch seine jüngsten Kunden freundlich und geduldig. Er wusste, wie wichtig es gerade den Kleinsten war, ihr Taschengeld optimal in Süßigkeiten zu investieren.
»Ach nee«, hörte sie eine Stimme hinter sich. »Guck mal, Schwabbel frisst schon wieder.«
Vor Schreck ließ sie ihr Brötchen fallen. Vor ihr standen Reinhold und Sebastian.
»Schwabbel, Schwabbel, wenn du weiter so frisst, wirst du bald platzen. Das wollen wir doch nicht? Wär doch ’ne ziemliche Sauerei.« Sebastian bog sich vor Lachen. »Und, was hast du noch an Proviant dabei?«
Schützend umklammerte sie ihre Tasche. Es half nichts. Reinhold riss sie ihr aus den Händen und kippte den Inhalt auf den Boden. Hefte, Bücher, Federtasche landeten in einer Pfütze.
»Hab ich’s mir doch gedacht.« Triumphierend
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