In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
können jetzt hineingehen, oder, Thomas?«
Der Mann nickte. Sein Kinn bebte. »Therese?«
»Alles klar, Mama«, sagte das Mädchen.
Als May die Flügeltüren öffnete, holte die Mutter tief Luft. Dann trat die kleine Familie gemeinsam durch die Tür und blieb zwei Meter vom Sarg entfernt stehen. Der Vater schluchzte auf. Er wandte sich ab und ging wieder hinaus, wo er von May in Empfang genommen wurde.
Das Mädchen traute sich als Erste. Sie ging zu ihrem Bruder und betrachtete ihn sorgfältig. »Daran ist er wohl gestorben«, sagte sie und deutete auf die Kopfverletzung. »Vermutlich«, sagte Theo mit gedämpfter Stimme.
»Darf ich ihm den hier in den Sarg legen?« Verlegen hielt sie den schmuddeligen Kuschelhasen in die Höhe. »Den hatte er als Kind.« Sie lächelte schief.
»Natürlich.«
Vorsichtig bettete sie den Hasen auf die Brust ihres Bruders. Sie runzelte die Stirn, hob dann vorsichtig eine Hand von ihm an und schob das Plüschtier darunter. »Komm ruhig her, Mama, es ist nicht so schlimm.«
Die Mutter holte noch einmal tief Luft und ging zu ihr.
Der Junge war kein Kind mehr gewesen. Trotzdem war Theo nicht in der Lage, sich den Schmerz vorzustellen, den diese Mutter jetzt durchleben musste. Seine winzige Tochter hatte er kaum kennengelernt. Sie war gemeinsam mit ihrer Mutter gestorben. Nadeshda hatte an Bauchspeicheldrüsenkrebs gelitten und jede Therapie verweigert. Nicht einmal Schmerzmittel hatte sie nehmen wollen. Sie hatte verzweifelt gehofft, lange genug durchzuhalten, um ihr Kind zu retten. Sie hatte es nicht geschafft.
Theo warf einen unauffälligen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten. Viel Zeit würden sie nicht mehr haben, bevor die ersten Maden auftauchten. Er machte sich bereit, notfalls die Vase hinter ihm zu Bruch gehen zu lassen, sollten sich die Biester blicken lassen.
Die Mutter legte dem Sohn eine Hand auf die kalte Wange. »Er ist fort«, sagte sie. »Obwohl er hier vor mir liegt, ist er schon fort.«
Sie blickte Theo in die Augen. »Jetzt weiß ich wenigstens, dass es nicht mein Junge ist, der im Sarg liegt, wenn wir ihn beerdigen.«
»Komm Mama, wir gehen.«
Die Mutter blickte durch die Tür in den Vorraum. »Thomas, willst du nicht doch …«
Ihr Mann schüttelte den gesenkten Kopf.
»Na gut.« Sie wandte sich ein letztes Mal ihrem Sohn zu. Dann drehte sie sich um und ging hinaus.
»Tschüss, Nils«, sagte das Mädchen und folgte der Mutter.
Theo vergewisserte sich, dass alle außer Sichtweite waren, und verschloss hastig den Sarg.
KAPITEL 21
Opfer. Dieses Wort kreiste in Nathalies Kopf wie eine Hummel. Sie sollte von ihren Opfern erzählen, hatte die auf haarsträubende Weise angenehm klingende Stimme gesagt. Sie quoll aus einem Lautsprecher, der unter der Decke angebracht war. Offenbar sollte Nathalie eine Art Generalbeichte ablegen. »Du weißt vermutlich bereits, dass du mit Tollwut infiziert bist«, hatte die Stimme nüchtern gesagt. »Wenn du überleben willst, musst du kooperieren.« Möglichst viele Details sollte sie aus ihrem Gedächtnis kramen, möglichst viele Namen nennen. Dann, und nur dann würde sie das rettende Antiserum erhalten. Vielleicht.
Und so erzählte Nathalie Stunde um Stunde um ihr Leben, wie eine düstere Scheherazade: tausendundeine Bosheit. Anfangs zögerlich, mit längeren Pausen, in denen sie panisch nach weiteren Freveltaten in ihrem Gedächtnis kramte, dann immer rascher in einem steten Fluss. Und erst in der geballten Gesamtschau des Berichts wurde ihr die ganze Ungeheuerlichkeit ihres Tuns bewusst. Einerseits. Andererseits merkte sie, wie die Erinnerung durchaus auch jenes Hochgefühl wieder weckte, das sie damals begleitet hatte. Das berauschende Gefühl der Macht, wenn sie sah, wie die anderen vor ihr kuschten, wie sie sie umwarben in der heimlichen Angst, beim nächsten Mal selbst das Opfer ihrer scharfen Zunge zu sein.
Immer wieder ertappte sie sich auch dabei, wie ihre Erzählung zu anderen Erinnerungen abschweifte.
Ihre Mutter war gestorben, als sie elf Jahre alt war. Sie war eine sehr schöne, aber schüchterne Frau gewesen, die an der Seite ihres dominanten Mannes zunehmend verblasst war. Nathalie hatte ihr Tod insgeheim nicht besonders tief getroffen. Sie genoss die besorgte Aufmerksamkeit, die ihr von allen Seiten entgegengebracht wurde. Die Rolle der tapferen Halbwaise spielte sie mit Bravour.
Sie war schon immer ein Papakind gewesen – und diesen hatte sie jetzt vollkommen für sich. Schon vor dem Tod seiner Frau
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