In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
hatte Peter Stüvens Aufmerksamkeit gänzlich seiner Tochter gegolten. Er entschied, welche Kindermädchen eingestellt wurden, welche Schule sie besuchte, dass sie Klavier statt Geige lernte und ob sie Reitstunden bekam. Sogar die Kleider, die sie trug, suchte er mit aus. Entsprach sie seinen Erwartungen, überschüttete er sie mit Liebe und Lob, enttäuschte sie ihn, strafte er sie mit Kälte und Nichtachtung. So hatte er es auch mit ihrer Mutter gehalten. Nur dass diese, im Gegensatz zu Nathalie, seinen Erwartungen fast nie entsprach.
Erst im Verlauf der Pubertät hatte sie begonnen, ihren despotischen Vater zunehmend kritisch zu sehen. Obwohl sie jetzt Mitte dreißig war, war es ihr dennoch nicht gelungen, sich von ihm zu lösen. Sein Einfluss auf sie war nach wie vor enorm.
»Gut genug reicht noch lange nicht«, hatte er seiner Tochter eingebläut. Nicht für jemanden wie Nathalie. Natürlich bin ich etwas Besonderes, dachte sie trotzig. Sie war schön wie ihre Mutter, hochintelligent wie ihr Vater. Einser-Abitur, Studium und Promotion im Schnelldurchlauf und jetzt mit Mitte dreißig auf dem Weg, eine glänzende politische Karriere hinzulegen. Ja, wenn sie rechtzeitig aus diesem Verlies herauskam.
Sie erhob sich von ihrem Lager und machte ein paar vorsichtige Schritte. Der Schwindel hatte nachgelassen. Sie streckte sich und ging dann hinüber zu einem kleinen Holztisch, auf dem eine Flasche Wasser stand. Durstig trank sie. Dass sie noch Wasser herunterbrachte, war bei einer Tollwutinfektion zumindest ein gutes Zeichen, so viel wusste sie. Dann biss sie grimmig in eine Scheibe Brot, die dort ebenfalls bereitgestanden hatte. Sie würde alle Energie brauchen, die sie hatte, um zu überleben.
Sie warf einen raschen Blick zur Decke hinauf, wo eine winzige Leuchtdiode verriet, dass dort ein elektrisches Gerät angebracht worden war. Eine Überwachungskamera, vermutete Nathalie. Sie nickte ihr zu, straffte die Schultern und setzte dann ihren Bericht fort.
Nur wenige Meter entfernt fing der Schatten den Blick auf, den Nathalie in die Kamera geworfen hatte. Eine Kampfansage also. Die Senatorin erwies sich erwartungsgemäß als zäher als die beiden männlichen Gefangenen. Reinhold Lehmann hatte geflucht und randaliert, bis er still geworden war, und hatte in seinem Delirium offenbar bis zum Ende nicht kapiert, worum es ging. Sebastian Klasen hatte um sein Leben gewinselt und die Tatsache, dass er Frau und Kinder hatte, wie eine Monstranz vor sich her getragen. Die waren ohne ihn auf jeden Fall besser dran.
Mit einem Mausklick speicherte der Schatten die dritte Stunde der Lebensbeichte der Senatorin in einen speziellen Ordner – die ganze ungeschminkte Wahrheit.
Durch das Küchenfenster sah Theo Hanna am Tisch sitzen. Sie hatte sich in eines von seinen Hemden gehüllt und die nackten Beine unter sich auf den Stuhl gezogen. Vor ihr stand ein großer Becher Milchkaffee. Sie schien in die Lektüre der Samstagszeitung vertieft zu sein. Was sie las, missfiel ihr offenbar. Theo lächelte. Hanna gehörte zu den Menschen, denen auf die Stirn geschrieben stand, was sie von einer Sache oder Person hielten. Er fand das ungeheuer liebenswert.
»Tut mir leid«, sagte er, als er den Raum betrat. »Aber das war wirklich eine Art Notfall.«
»Was war denn los?« Hanna schaute ihn neugierig an.
»Hast du schon gefrühstückt?«
»Nur das Ei.«
»Dann willst du das nicht wissen.«
Sie verzog das Gesicht.
Dann schob sie ihm die »Hamburger Morgenpost« hinüber. »Entführt? Hamburgs schönste Senatorin vermisst!«, titelte die Zeitung. Daneben befand sich ein Bild von Nathalie im schulterfreien Abendkleid, das auf einer Spendengala aufgenommen worden war.
»Zuletzt wurde Dr. Stüven an der Bar des Hotels Vier Jahreszeiten an der Alster gesehen. Sie trug ein taubenblaues Abendkleid mit passendem Bolero.« Hanna verdrehte die Augen. »Wundert einen ja fast, dass die nicht auch noch den Designer nennen.«
»Gib mal her.« Theo nahm ihr die Zeitung aus der Hand und las. »In ihrer Gesellschaft befand sich eine 30- bis 40-jährige elegante Frau mit schwarzem Pagenschnitt. Die Unbekannte wird gebeten, sich bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden. Ebenso andere Zeugen, die Nathalie Stüven nach 23 Uhr am Donnerstagabend gesehen haben.«
Hanna sah ihn an. »Meinst du, das war sie?«
»Wer? – Sanna?« Er zuckte die Schultern. »Könnte sein. Ich meine, sie hat dunkles Haar gehabt. Allerdings hab ich sie seit fast
Weitere Kostenlose Bücher