In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
verzog keine Miene. »Vielen Dank, Herr da Silva.«
Hadice, die die Luft angehalten hatte, ließ sie mit einem Seufzer entweichen.
Augusto da Silva hatte soeben Grasmanns Sekretärin identifiziert.
Vom Barkeeper des Vier Jahreszeiten erhofften sie sich mehr. In guten Hotels wurden nur Profis eingestellt – und zu deren Aufgaben gehörte es auch, sich Gesichter einzuprägen, um die verwöhnten Gäste mit Namen ansprechen zu können sowie den bevorzugten Drink parat zu haben. Und außerdem war die Begegnung erst dreißig Stunden her. Der Barkeeper musterte die mit schwarzen Pagenköpfen ausstaffierten Frauen gründlich.
»Tut mir leid«, sagte er schließlich, »ich bin mir absolut nicht sicher.« Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Ich war vorgestern Abend wohl zu sehr auf die Senatorin konzentriert. Aber wenn es eine von denen war, dann die.«
Er deutete auf Sylvia.
Der Refrain von »Schöne Maid« riss Theo aus finsteren Träumen. Erst hatten ihn tollwutverseuchte Vampirfledermäuse mit menschlichen Gesichtern verfolgt. Und dann hatte ihn eine Boa constrictor umschlungen. Vorsichtig legte er Hannas weißen runden Arm beiseite, der quer auf seiner Brust geruht hatte. Die Boa, vermutete er. »Hojahojaho!«, frohlockte Tony Marshall. Lilly entwickelt eine zunehmend sadistische Ader, diagnostizierte Theo. Er griff nach dem Mobiltelefon und würgte den Schlagersänger ab.
Es war May. »Wir haben hier ein kleines Problem.«
Er schielte auf die Armbanduhr, die auf dem Stuhl lag, der ihm als Nachttisch diente. Für 7.45 Uhr am Sonnabendmorgen klang seine Kollegin verdammt ausgeschlafen.
»Weißt du, dass deine Tochter ein Monster ist?«
May ignorierte seine Bemerkung. »Kannst du rüberkommen?«
Theo wusste, dass Ausflüchte sinnlos waren. Wenn May sagte, dass es ein Problem gab, dann gab es auch eins. Er schwang die Beine aus dem Bett. »Worum geht’s denn?«
»Um unseren Bergsteiger. Die Angehörigen kommen um halb zehn. Bis dahin müssen wir uns was einfallen lassen.« Damit beendete sie das Gespräch. May war noch nie sonderlich redselig gewesen.
Hanna maunzte unwillig im Schlaf und rollte sich zusammen. Dabei zog sie ihm die Decke weg. Theo beschloss, eine größere zu kaufen.
Er brauste sich kurz unter der Dusche ab und bürstete sich flüchtig die Zähne. Da sie sich noch Delilahs Show angeschaut hatten, war es spät geworden. Der Travestiekünstler hatte sich auf Songs von Cole Porter spezialisiert – »I get no kick from Champagne«, »Night and Day«, »Miss Otis regrets«. Theo hatte gestaunt, wie verwandelt sein stotternder ehemaliger Schulkollege auf der Bühne war. »Wenn ich diese Kleidung trage, dann bin ich kein anderer Mensch«, hatte Benno erklärt, »dann bin ich endlich der Mensch, der ich eigentlich bin.« Erst die Maske schenkte ihm eine Identität, die mit seinem inneren Bild von sich im Einklang stand.
»Glaubst du, er könnte es getan haben?«, hatte Hanna auf der Heimfahrt gefragt, nachdem sie eine Weile stumm neben ihm gesessen hatte.
Theo hatte den Kopf geschüttelt. »Ich weiß es einfach nicht. Um so etwas zu tun, muss man schon einen sehr großen Hass aufbringen.« Obwohl die nächtlichen Straßen frei waren, hatte er den Wagen im vorgeschriebenen Tempo über die Elbbrücken gelenkt. Nur Auswärtige rasselten in die dauerhaft installierten Radarfallen.
Hanna hatte diskret gegähnt und die Augen geschlossen. »Immerhin ist es dieser Nathalie nicht gelungen, sein Leben zu ruinieren. Das spricht eigentlich dagegen, dass er der Täter ist, findest du nicht?«
»Es sei denn, er hat es wegen Sanna getan. Wie er das Glas zerquetscht hat, das war schon heftig.«
»Kann sein. Aber diese Sanna hat viel mehr Grund, sich zu rächen, finde ich.«
Ich muss unbedingt Hadice anrufen und sie fragen, ob sie Sanna schon ausfindig gemacht hat, schwor er sich, während er sich eiskaltes Wasser auf den Rücken prasseln ließ.
Zehn Minuten später stand er bei May vor der bereits aufgebahrten Leiche. Sie nippten beide einträchtig an ihren Kaffeebechern. Die eingedrückte Schläfe des Toten hatte May mit einer sauberen Mullbinde abgedeckt. Abgesehen davon war das Gesicht nahezu unversehrt.
»Und?«, fragte er. »Sieht doch gut aus.«
»Wart’s ab.«
Langsam schwante Theo, worin das Problem bestand.
Der junge Mann war gerade mal neunzehn Jahre alt, als er bei einer Watzmannbesteigung in Österreich abstürzte. Die Bergung war schwierig gewesen und hatte fast achtzehn Stunden
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