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In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

Titel: In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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gedauert. Zeit genug für die Fliegen.
    Und jetzt kamen ihre Nachkommen aus ihren Löchern. Schon wanden sich zahlreiche Maden auf der blassen Haut des Toten. Kein schöner Anblick und ganz sicher keiner, den man den Angehörigen zumuten konnte.
    May trat an die Bahre, auf der der Sarg ruhte, und klatschte einmal kräftig. Die Maden verschwanden wie von Zauberhand. »So können wir sie für eine Weile vertreiben. Aber sie kommen natürlich wieder, wenn Ruhe herrscht.«
    Theo stoppte die Zeit. Sechs Minuten dauerte es, bis sich die erste Made wieder blicken ließ.
    »Wir kühlen ihn noch mal richtig runter. Dann werden die Viecher träger.«
    May blickte ihn zweifelnd an. »Und du meinst, das reicht?«
    »Wenn nicht, kommt Plan B zum Zug.«
    »Welcher Plan B?«
    »Krach machen.«
    Theo nutzte die Zeit, bis die Angehörigen kamen, um nach Hanna zu schauen. Die schlummerte noch immer tief und fest. Den erotischen Wochenendmorgen, den er sich erhofft hatte, konnte er sich zweifellos abschminken.
    Er kochte zwei Eier. Ließ eines davon, in ein Küchenhandtuch gehüllt, im noch warmen Topf und rief dann Hadices Handy an.
    »Öztürk.«
    »Hadice. Gut, dass ich dich erwische.«
    Hadice dehnte ihre schmerzenden Schultern. Die innere Anspannung machte sich inzwischen muskulär bemerkbar. »Mensch, Theo, was gibt’s? Hier herrscht der helle Wahnsinn.«
    »Wohnst du jetzt im Büro?«
    »So sieht’s aus.«
    Er berichtete kurz von dem erstaunlichen Treffen mit Benno und dessen Erzählung, wie Nathalie Sanna die Chance ihres Lebens zunichte gemacht hatte.
    »Ich weiß nicht.« Hadice gähnte. Auch sie hatte in der Nacht zuvor nur wenig Schlaf bekommen. »Wenn sie unbedingt tanzen wollte, warum hat sie es dann nicht anderswo versucht?«
    »Ich erinnere mich nur, dass sie im Anschluss eine ganze Weile in eine psychosomatische Klinik musste. Ich glaube, diese vielen Stunden in dem dunklen Kabuff haben sie völlig fertiggemacht.«
    Hadice brummte.
    »Habt ihr sie denn schon aufgestöbert?«
    Die Kommissarin klemmte das Mobiltelefon zwischen Schulter und Kinn und blätterte in den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. »Ach so, die ganze Familie ist nach dieser Geschichte ausgewandert.«
    »Ausgewandert?«
    »Nach Kanada. Von den Behörden da haben wir noch nichts gehört.«
    Theo überlegte. »Aber das heißt nicht, dass Sanna nicht längst nach Deutschland zurückgekehrt sein kann.«
    »Nein«, sagte Hadice, »das heißt es nicht.«
    Pünktlich um halb zehn nahmen Theo und May die Angehörigen des verunglückten Jungen in Empfang: Vater, Mutter und eine jüngere Schwester. Keiner von ihnen hatte in seinem Leben schon einmal einen toten Menschen gesehen.
    Das Abschiednehmen von den Verstorbenen wurde im Bestattungsinstitut Matthies, anders als bei vielen anderen Bestattern, besonders empfohlen. Das Ritual, das früher selbstverständlicher Bestandteil jedes Todesfalls war, war ebenso wie das Sterben im Kreis der Familie inzwischen eher die Ausnahme.
    Schon Theos Vater hatte Angehörigen geraten, diese Chance zu nutzen: eine letzte Gelegenheit, dem Toten eine liebevolle Geste oder einen letzten Gruß mit auf den Weg zu geben, eine letzte Chance, Worte auszusprechen, die zwar ungehört, aber sonst auch ungesagt blieben. Vor allem aber die Möglichkeit, die Realität des Todes anerkennen zu können – ein wichtiger Schritt in der Trauerarbeit.
    Die zierliche Mutter des Jungen wirkte angespannt, aber gefasst. Sie stützte ihren Mann, der totenbleich war und zitterte. Die Tochter war vielleicht vierzehn Jahr alt. Sie trug verwaschene Jeans und ein langes schwarzes T-Shirt. Ihre Augen waren verweint. Unter ihrem Arm klemmte ein abgewetzter Stoffhase.
    Theo begrüßte die Familie und zog sich dann zurück. Anders als üblich hatten sie den Sarg noch nicht in den Raum gerollt, in dem die Verabschiedungen stattfanden. Sie hatten vereinbart, ihn erst in der letzten Minute aus der Kühlung zu holen. Jetzt löste er die Schrauben des Sargdeckels und lehnte ihn gegen die Wand. Dann zündete er die Kerzen an, die in hohen schlichten Ständern links und rechts vom Sarg standen. Durch das Fenster fiel der Blick auf ein sonnenbeschienenes Stück Wiese, auf dem ein Apfelbaum stand.
    May reichte allen die Hand und drückte ihnen noch einmal ihr Beileid aus. »Ich weiß, dass dies jetzt ein schwieriger und schmerzlicher Moment für Sie ist«, sagte sie. »Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie so weit sind.«
    Die Frau nickte. »Ich glaube, wir

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