In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
22
»Ich hab da was.« Henry legte ein paar ausgedruckte Blätter auf Hadices Schreibtisch.
Sie nahm den hochgelagerten Fuß von einem Papierkorb, den sie zu diesem Zweck umgedreht neben ihren Stuhl positioniert hatte. »Was ist das?«
»Die Krankenakte von Sylvia Kuhn.«
Hadice hob die Augenbrauen und griff nach den Seiten.
»Wie um alles in der Welt bist du da rangekommen?« Normalerweise erhielt die Polizei derart sensible Daten erst nach zähem Tauziehen und richterlichem Beschluss.
Er zuckte mit den Schultern. »Du glaubst nicht, was plötzlich alles möglich wird, wenn eine Senatorin verschwindet.«
Stirnrunzelnd überflog Hadice die Seiten. Dann hob sie den Blick zu Henry, der noch immer mit überkreuzten Armen im Türrahmen lehnte. »Schizophrenie?«
Henry nickte. Hadice überflog die erste halbe Seite und kapitulierte. Sie wählte die angegebene Nummer des behandelnden Arztes und hatte Glück.
Dr. Martin Franke hatte Sylvia mehrfach während ihrer stationären Aufenthalte in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Eppendorf behandelt. Der Leiter der Station hatte an diesem Tag denkbar schlechte Laune. Nicht nur musste er die Wochenendschicht für einen erkrankten Kollegen übernehmen und konnte daher nicht wie geplant zur Kieler Woche fahren – für einen leidenschaftlichen Segler wie ihn ein Desaster. Er hatte sich auch mit seiner Frau gestritten, der es auf die Nerven ging, wenn er ihr gegenüber sein psychotherapeutisches Gehabe, wie sie es nannte, an den Tag legte.
»Ich bin deine Frau und nicht deine Patientin«, hatte sie ihn nicht zum ersten Mal in ihrer siebzehn Jahre währenden Ehe angefaucht. Je ruhiger und rationaler er, wie er fand, reagierte, desto mehr brachte sie das auf die Palme. Sie wollte emotionale Auseinandersetzungen. Sie war eine temperamentvolle Frau und hatte keine Lust, ihre Gefühlsausbrüche zu kanalisieren. Und nun klingelte auch noch das Telefon, wo er sich doch gerade zum bescheidenen Highlight des Tages – einem Stück Käsekuchen – niedergelassen hatte. Er rammte die Kuchengabel in das Gebäck und nahm das Gespräch widerwillig entgegen. »Was gibt’s?«
Gundula Möller, die schon lange am Empfang des Klinikums arbeitete, nahm Frankes schlechte Laune ungerührt zur Kenntnis. »Die Kriminalpolizei«, sagte sie und betrachtete ihre Fingernägel, die sie am Morgen in einer modischen Cappuccinonuance lackiert hatte. Sie hatte den gleichen Farbton wie die ersten Altersflecken auf ihren Handrücken, stellte sie halb entsetzt, halb belustigt fest.
»Sie erwarten also ernsthaft, dass ich Ihnen jetzt alles über meine Patientin erzähle«, blaffte Franke, nachdem Hadice ihm ihr Anliegen geschildert hatte. »Sie haben doch schon die Patientenakte.« Auch die hatte er zuvor nur äußerst widerwillig aufgrund des ungewöhnlich schnell erteilten richterlichen Beschlusses herausgerückt.
»Ganz genau.« Hadice ließ sich von dem Mediziner nicht beeindrucken. »Herr Dr. Franke, Ihre Einstellung ehrt Sie, aber hier geht es wirklich um das Leben einer jungen Frau, da müssen berufsethische Ansprüche ganz einfach hintanstehen.« Henry, der noch immer im Türrahmen lehnte, grinste. Solches Gesäusel lag Hadice normalerweise nicht. Sie streckte ihm die Zunge heraus.
Am anderen Ende der Leitung hörte sie Franke seufzen. »Ich will sehen, was sich machen lässt. – Was wissen Sie über Schizophrenie?«
Hadice schielte auf den Bildschirm, auf dem sie die Krankheitsbeschreibung des Gesundheitsportals NetDoktor aufgerufen hatte: »Schizophrenie geht mit Veränderungen der Gedanken, der Wahrnehmung und des Verhaltens einher.«
Franke grunzte zustimmend.
»Soweit ich das verstanden habe, sind Menschen mit Schizophrenie zeitweise nicht in der Lage, zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu unterscheiden: Sie hören beispielsweise Stimmen, die andere nicht hören, oder fühlen sich verfolgt.«
»Richtig.« Franke schien ein wenig besänftigt.
»Und das trifft auch auf Sylvia Kuhn zu?«
»So ist es. Das gilt aber nur während ihrer psychotischen Schübe. In der Zwischenzeit ist sie so normal wie Sie und ich«, sagte Franke und dachte dabei an seine manische Leidenschaft für handgenähte britische Herrenschuhe, von denen er inzwischen mehr als zweiunddreißig Paare besaß. Er lächelte ins Telefon. Ganz normal war das auch nicht. Normalität war eben ein Konstrukt, das der Realität nicht standhielt.
»Aber sie hat mehr als einen Krankheitsschub
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