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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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an die armen Schlucker, die dort in ein paar Stunden ihre Arbeit antraten, Gabelstapler durch die langen, flachen Lagerhallen fuhren oder an, wie er sich vorstellte, endlosen, öden Fließbändern standen. Er wusste nicht einmal genau, welche Art von Fabriken es in diesem bedauernswerten Teil von New Jersey gab, nur, dass sie fürchterlich stanken.
    Als er die Rampe zur Kosciuszko-Brücke hinaufrumpelte und dabei versuchte, den Schlaglöchern auszuweichen, dachte er darüber nach, wie dieser Landstrich gewesen sein musste, bevor der weiße Mann und die Luftverschmutzung eingefallen waren. In den weiten, tiefen, von gelbbraunen Grasufern gesäumten Sümpfen hatte es von Fischen und anderem Getier vermutlich nur so gewimmelt; und diese Fülle hatte ausgereicht, die dort ansässige Bevölkerung zu ernähren, amerikanische Ureinwohner der Stammesgruppen Abenaki und Wappinger. Manchmal nachts stellte Lee sich die Seelen längst nicht mehr existierender Stämme vor, die fassungslos durch das Land streiften, das ihnen einmal gehört hatte. Jeder New Yorker Schüler wusste aus dem Geschichtsunterricht, dass Peter Minuit Manhattan für ein bisschen wertlosen Plunder von ihnen erworben hatte.
    Binnen Kurzem erreichte er die Abkürzung zur 202 und raste durch die dunkel gewordene Landschaft, während seine Nichte auf dem Rücksitz friedlich schlief. Er erinnerte sich an lange Autofahrten als Kind mit seinen Eltern, wie er sich nach vorn gelehnt hatte, um mit seiner Mutter zu sprechen, während sie fuhr, und an das Gefühl, wach zu sein, während der Rest der Welt um ihn herum schlief. Er mochte dieses Gefühl noch immer und genoss es, mitten in der Nacht durch die Straßen von Manhattan zu streifen, während der Großteil seiner New Yorker Mitbürger im Bett lag und schlief. Die Nacht zeigte einem Dinge, die das Tageslicht einem nicht zeigte, dachte er, als er auf seiner Fahrt tief hinein ins Ackerland von New Jersey an Somerville und Flemington vorbeikam. Insofern ähnelten sich der Van-Cortlandt-Vampir und er, sinnierte er – obwohl er bezweifelte, dass ihm das helfen würde, seine schwer zu fassende Beute zu schnappen.
    Als er am Haus ankam, schlief Fiona bereits. So trug er Kylie in ihr Zimmer hinauf und brachte sie ins Bett. Anschließend schlich er auf Zehenspitzen in das geräumige Schlafzimmer im dritten Stock, das er sich so viele Sommernächte lang mit seinen Cousins und Cousinen geteilt hatte. Der Dachboden war schon zum Schlafzimmer ausgebaut worden, bevor seine Familie hier einzog, und obwohl Laura und er eigene Zimmer gehabt hatten, hatten sie es geliebt, sie ihren Onkeln und Tanten zu überlassen und mit ihren Cousins und Cousinen hier oben zu übernachten. Die Jungs hatten immer in den Etagenbetten im kleineren Zimmer rechts der Treppe geschlafen, die Mädchen in dem auf der anderen Seite mit den zwei Doppelbetten.
    Damals erschien das Leben so unbeschwert. Die Sommer verbrachte man im Schwimmbecken, mit Beerensammeln im Wald und damit, so viel Wassermelone zu essen, wie in einen hineinging. Lee wusste, dass die gefärbte Brille der Nostalgie die Erinnerung weich zeichnete und ihr die Beschaffenheit eines Aquarellbildes verlieh. Doch die Geheimnisse seiner Jugend wie die Playboy -Hefte, die sein Cousin Billy unter den Bettdecken versteckt hatte, waren von zarter, verlockender Unschuld und etwas ganz anderes als die Geheimnisse des jungen Mörders, den er zu fassen versuchte.
    Denn Lee war sich ziemlich sicher, dass der Van-Cortlandt-Vampir jung war. Nicht nur, weil das gängige Profil von Serienmördern das eines männlichen Weißen zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig war (obwohl es natürlich einige viel ältere gab), sondern auch weil seine Taten von so grausiger Spleenigkeit waren. Sie waren nicht das Werk eines älteren Mannes, glaubte Lee, sondern das von jemandem, dessen Vorstellungswelt sich auf etwas erstreckte, das der Jugend vorbehalten war. Es war nicht mehr als ein Bauchgefühl, aber Lee hatte gelernt, seiner Intuition zu vertrauen, auch ohne dass konkrete Beweise sie stützten.
    Während er die Treppe hinaufschlich, stürmten Kindheitserinnerungen auf ihn ein. Er atmete den vertrauten modrig-süßen Geruch des Speicherzimmers ein, den schwachen Duft von Spinnweben und Zedernholzspänen, von verstautem Bettzeug und verworfenen Träumen.
    Er zog sich bis auf die Unterwäsche aus, schlüpfte in das Etagenbett und fiel in tiefen Schlaf, während das alte Haus um ihn herum zitterte, sich

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