In tiefster Dunkelheit
Freundin vielleicht oder bei Verwandten?«
Eigentlich gab es nach zwei Wochen keinen Anlass zu glauben, Kelli wäre in Gefahr, doch Jess war nicht bereit, das Risiko einzugehen.
»Ich könnte zu meinem Bruder nach Moundville«, erwiderte sie mit bebender Stimme. »Vorausgesetzt, mein Chef gibt mir frei, und der Käfer hält so lange durch.«
»Vertrauen Sie mir. Ihr Chef wird Ihnen keine Schwierigkeiten machen.«
Dan wartete auf der Veranda direkt vor der Tür. Obwohl die Designer-Sonnenbrille seine Augen verdeckte, warnte sie seine finstere Miene, dass er entweder sauer war, weil sie nicht darauf bestanden hatte, dass er bei dem Gespräch anwesend war, oder es war noch etwas anderes passiert.
»Kelli«, sagte Jess zu dem Mädchen, das mit wachsamem Blick in der Tür stehen geblieben war, »packen Sie alles zusammen, was Sie für ein paar Tage benötigen.«
Als das Mädchen gegangen war, gab Jess ihm die Kurzversion dessen, was sie erfahren hatte, bevor er fragen konnte.
Er inspizierte die Nachricht, die wahrscheinlich so verunreinigt war, dass man nicht auf Fingerabdrücke oder sonstige Spuren hoffen konnte, die dieser Tim womöglich hinterlassen hatte. Bisher hatten sie nirgends auch nur eine Spur von Beweismaterial sichern können. Sie bezweifelte, dass sie auf einmal mehr Glück hatten.
»Wir bekommen Gesellschaft.« Er setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Patterson ist auf dem Weg hierher, und er ist fuchsteufelswild.«
»Gut.« Jess steckte das Papier mit der Nachricht und die Kreuzkette in ihre Tasche. »Er kann Kelli zum Haus ihres Bruders in Moundville begleiten. Ich will nicht, dass sie hier allein bleibt.«
Wie vorausgesagt traf Patterson schnellstens ein. Kelli wartete in Dans Mercedes. Auf Jess’ Vorschlag hin hatte Dan ihr gezeigt, wie man die Musikanlage bediente. Nun hoffte Jess, dass sie nicht mithörte, was Patterson in seiner Wut von sich gab.
Dan nahm den Polizeichef von Tuscaloosa beiseite und brachte ihn auf den neusten Stand. Jess versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder zurück zu der Art, wie Dan mit dieser Situation umging. Er war sehr gut im Lösen von Problemen. Sowohl Patterson als auch Griggs schienen ihn zu respektieren, obwohl sie mindestens ein Jahrzehnt länger als er im Polizeidienst waren. Widerwillig bewunderte sie erneut den Schnitt seines Anzugs und seine starke, selbstbewusste Körperhaltung, die so viel reifer war als noch vor zehn Jahren. Die Vierziger standen ihm gut.
Sie selbst hatte sich leider nicht so gut gehalten. Die Brille war letztes Jahr notwendig geworden. Auch kam sie um den Gebrauch von Feuchtigkeitscreme und den gewissenhaften Einsatz von Sunblockern nicht mehr herum, wenn sie nicht wollte, dass sich noch mehr Falten um ihre Augen bildeten. Sie hatte versucht, regelmäßig ins Fitnessstudio zu gehen, um in Form zu bleiben, was aber bei ihren Arbeitszeiten ein Ding der Unmöglichkeit gewesen war.
Jetzt waren ihre Arbeitszeiten kein Problem mehr.
Und er wusste es.
Ihr Magen hob sich, als Scham sie überkam und weil sich zugleich schwach Hunger meldete. Heute Morgen hatte sie sich keine Zeit für ein Frühstück genommen. Sogar den Kaffee hatte sie sich verkniffen, bis sie in Dans Büro war. So wie sie Katherine Burnett kannte, würde die sofort merken, wenn sich jemand an ihrer Hightech-Kaffeemaschine zu schaffen gemacht hatte. Jess traute ihr durchaus zu, dass sie die Kaffeebohnen in dem schicken Kristallbehälter gezählt hatte, der auf dem Marmortresen im Anrichtezimmer stand.
Dan und Patterson näherten sich nun der kleinen Veranda, wo sie wartete. Sie wappnete sich. Jetzt wurde ihr sicher der Kopf abgerissen. Es wäre nicht das erste Mal, und solange sie noch atmete, auch nicht das letzte Mal.
»Sie glauben, Reanne ist mit diesem Tim durchgebrannt.«
Jess wusste nicht, ob er sie fragte oder anklagte. »Nein. Absolut nicht.«
So etwas wie Erleichterung erschien in seinen Augen. »Warum nicht?«
»Das Mädchen ist Reannes Freundin.« Jess nickte zu dem Mercedes, wo Kelli wartete. »Sie glaubt nicht, dass Reanne fortgelaufen ist. Sie glaubt, sie wurde entführt. Das genügt mir als Beweis.«
Patterson nickte, ob zustimmend oder anerkennend, hätte sie nicht sagen können.
»Jemand muss sie zum Haus ihres Bruders bringen«, erklärte Jess ihm. »Können Sie dafür sorgen, dass sie sicher dorthin kommt?«
Patterson nickte wieder.
Was war denn los mit ihm? Sonst war er doch immer so
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