In tiefster Dunkelheit
Anwalt sich in der Zwischenzeit gemeldet. Angeblich hatte er nichts von seiner Klientin gehört. Die Presse hatte den Zusammenhang zwischen der abhandengekommenen Therapeutin und den vermissten Mädchen bisher nicht entdeckt.
Und Jess hatte es gestern Abend erstaunlicherweise geschafft, Burnett aus dem Weg zu gehen. Das Haus war so riesig, dass ihr das gar nicht mal so schwer gefallen war.
Lori war ganz in ihre Recherche vertieft. Als sie Jess’ Blick spürte, sah sie endlich von ihrem Laptop auf. »Tut mir leid, haben Sie etwas gesagt?«
Jess mochte Lori Wells mit jedem Tag mehr. Die Frau war ehrgeizig. Sie erinnerte Jess an sich selbst vor zwei Jahrzehnten. Vielleicht musste Harper sich tatsächlich noch gedulden. Ihre Miene war abwesend, doch ihre Augen leuchteten aufgeregt.
»Haben Sie etwas gefunden?« Adrenalin schoss heiß durch ihre Adern. Jess merkte, wie sie sich unwillkürlich erwartungsvoll vorlehnte.
Lori neigte den Kopf auf eine Seite und machte ein Gesicht, als wollte sie sagen: Ich weiß nicht recht. »Vielleicht. Hier ist ein ungelöster Fall.«
Jess war aufgesprungen und um den Tisch herum, noch bevor Wells ihre vorsichtige Feststellung zu Ende ausgesprochen hatte.
»Lassen Sie mal sehen.«
»Christina Debarros, dreizehn Jahre alt, verschwand vor fast sechs Jahren.«
Das junge Mädchen lateinamerikanischer Herkunft war immer noch als vermisst gemeldet. Jess las sich die Informationen durch, die zusammen mit ihrem Foto in der Datenbank gespeichert waren. »Kein Hinweis auf ein Verbrechen.« Jess schnaubte. »Das klingt bekannt.«
»Das Beste kommt noch.«
Jess beugte sich näher zum Bildschirm. Janie Debarros, die Mutter, hatte ausgesagt, sie habe den Verdacht, ihre Tochter sei schwanger. Als Gründe gab sie plötzliche Übelkeit und das Ausbleiben der Regel seit drei Monaten an. Christina war Schülerin der Warrior Middle School gewesen.
Jess schnappte nach Luft.
»Lesen Sie weiter«, drängte Lori, deren Stimme nun die Aufregung deutlich anzuhören war.
Jess fiel die Kinnlade herunter. Ganz oben auf der Liste der Verdächtigen in diesem Fall stand
Tate Murray
. »Wie konnten wir das übersehen, als wir die Murrays in die Datenbanken eingegeben haben?«
»Er war noch minderjährig. Und wurde von jedem Verdacht freigesprochen. Deshalb taucht sein Name in keiner Datenbank auf. Das hier habe ich direkt aus den Akten.«
Als ihr aufging, was das möglicherweise bedeutete, brauchte Jess einen Moment, um sich zu beruhigen. »Können Sie das Foto des Mädchens auf mein Handy schicken?«
»Kein Problem.« Ihre Finger flogen über die Tasten. Sie hatte es kaum eingegeben, da vibrierte schon Jess’ Handy.
»Wenn Sie schon mal dabei sind, schicken Sie mir auch die Datei oder wenigstens, so viel Sie können.« Jess studierte das Gesicht des vermissten Mädchens. »Leben die Debarros noch in Warrior?«
Lori hackte wieder auf die Tasten ein. »Ja, tun sie.«
Sie sahen sich an, und das Unausgesprochene erschütterte die Luft zwischen ihnen.
»Der Chief wird meinen Kopf fordern.«
»Nicht wenn das, was wir finden, uns auf die Spur dieser Mädchen bringt.«
»Möglicherweise ist es nur ein Zufall.«
Jess lächelte wie elektrisiert vor gespannter Erwartung. »Das glauben Sie genauso wenig wie ich.«
»Tate Murray ist tot.«
Jess nickte. »Das stimmt. Aber seine Eltern nicht.«
Tates Vater hatte bei Jess einen Eindruck hinterlassen. So wie er geredet und sich gegeben hatte, hatte er freundlich und mitfühlend auf sie gewirkt. Aber etwas hatte gefehlt, abgesehen von der Tatsache, dass er nicht die üblichen Fragen gestellt hatte. Dieser Punkt hatte sie die ganze Nacht über beschäftigt.
Mr Murray hatte keinerlei Traurigkeit erkennen lassen, als er von seinem Sohn sprach. Nicht die leiseste Spur. Drei Jahre waren nicht annähernd genug, um einen solchen Schmerz zu verarbeiten. Was zweierlei bedeuten konnte: Er befand sich immer noch im Stadium der Verleugnung, oder er liebte seinen Sohn nicht.
Jess tippte auf Verleugnung – diese universelle erste Reaktion auf den plötzlichen, schmerzhaften Verlust eines geliebten Menschen.
Und Verleugnung konnte ein gefährlicher Abwehrmechanismus sein, wenn man sie über Wochen oder Monate oder sogar Jahre hinweg nicht überwand. In extremen Fällen führte das dazu, dass keine emotionale Reaktion auf Ereignisse erfolgte oder die logischen Konsequenzen des eigenen Handelns nicht mehr erkannt wurden. Dabei blieb das Gewissen auf der Strecke.
»Wir
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