In tiefster Dunkelheit
frei.«
»Und jetzt«, stellte Jess fest, »sind Sie hier und nehmen den Ball wieder auf, den er offenbar fallen gelassen hat.«
Jess blickte zurück zum Haus der Debarros’, während Lori rückwärts auf die Straße setzte. Ein Gesicht drückte sich an eines der Frontfenster. Es sah aus wie das der Frau, die wieder in die Küche zurückgeschickt worden war.
Christinas Mutter.
Jess starrte aus dem Fenster, bis sie das Haus nicht mehr sehen konnte. Dann drehte sie sich nach vorn und entschied für sich, was als Nächstes anstand. Burnett würde durch die Decke gehen, wenn er das erfuhr. Doch der würde sowieso schon fuchsteufelswild sein. Was machte ein Grad mehr da noch aus?
»Fahren wir zurück ins Büro?«
Auf zur nächsten Hürde. »Später. Zuerst statten wir den Murrays einen Besuch ab.«
Lori musterte sie kurz von der Seite. »Haben Sie einen Plan?«
»Ich brauche keinen Plan.« Irgendwie hatte sie auf einmal das nagende Gefühl, als würde die Zeit drängen. Sie musste jetzt sofort dorthin.
»Weil …«, bohrte Lori nach.
»Weil wir gerade einen ungelösten Fall wieder aufgenommen haben, in dem die Murrays Verdächtige sind.«
»Das stimmt«, bestätigte Lori. »Die Murrays müssen nicht mit uns sprechen, aber der Versuch, sie zu befragen, ist nicht nur gerechtfertigt, es ist auch unser Job.«
Oh ja. Detective Wells war aus dem richtigen Holz geschnitzt.
»Ich kapier’s nicht«, sagte Lori. »Wenn die Murrays darin verwickelt sind, warum sollten sie so etwas tun? In ihrer Vergangenheit findet sich nichts, das auf Gewaltbereitschaft schließen lassen könnte.«
Über diese Frage musste Jess gar nicht erst nachdenken. Sie hatte im Kopf bereits ein grobes Profil des Paares erstellt, auch wenn sie bisher nur den Ehemann kennengelernt hatte. »Verleugnung. Ihr einziges Kind ist eines plötzlichen Todes gestorben. Sie scheinen einfache, bodenständige Menschen zu sein. Wahrscheinlich sind sie nicht über die Highschool hinausgekommen. Haben hart gearbeitet. Familie ist alles. Ihr Sohn war ihr Leben.«
»Sie wollten sicher nicht, dass seine Zukunft durch eine unerwartete Schwangerschaft ruiniert wurde, noch bevor er die Highschool beendet hatte«, spann Lori den Faden weiter.
»Ganz gewiss nicht.« Jess verstand die menschliche Psyche und wusste, wie verletzlich sie war. »Wenn Ihre Theorie stimmt, war das, was Christina zugestoßen ist, das erste Verbrechen. Das lag ihnen auf dem Gewissen, doch durch Verleugnung konnten sie ihre Handlungen rationalisieren. Als ihr Sohn starb, ging der Verlust so tief, dass wieder die Verleugnung einsetzte. Nur so konnten sie die ungeheure emotionale Verletzung überleben. Die einzige Sicherheit, in die sie sich flüchten konnten.«
»Kann Verleugnung tatsächlich so stark sein?«
Das war etwas, das Jess recht gut aus eigener Erfahrung kannte. »In extremen Fällen kann Verleugnung unglaublich machtvoll sein. Kommt dann noch so etwas wie eine Obsession dazu, hat man das Rezept für eine Tragödie.«
»Okay, ich glaube, das kann ich so weit nachvollziehen«, sagte Lori. »Aber warum jetzt diese Mädchen entführen? Nach all diesen Jahren? Was ist das Motiv?«
»Das hängt ganz von dem Verlangen ab, welches die Verleugnung nähren hilft.« Außerdem war das der Teil, in den Jess zu diesem Zeitpunkt noch am wenigsten Einblick hatte. »Wollen sie die Lücke, die er hinterlassen hat, vielleicht mit einer Tochter füllen? Ein Sohn wäre zu schmerzhaft, fast so, als würden sie
ihn
ersetzen. Die andere Möglichkeit wäre, dass die Verleugnung so weit geht, dass sie eine Gefährtin für
ihn
suchen. Wenn ihr Sohn noch lebte, hätte er vielleicht seinen Collegeabschluss gemacht. Wäre vielleicht verlobt.«
»Das ist krank.« Lori schüttelte sich.
Jess zuckte die Achseln. »Es gibt noch viele schlimmere Szenarien.«
Lori warf ihr einen erschrockenen Blick zu. »Sie meinen Spears.«
»Das Böse gibt es in allen Formen und Größen«, erklärte Jess. Sie hatte Jahre damit verbracht, die Arten und Angesichter des Bösen zu studieren. »Es gibt die Soziopathen wie Eric Spears ganz an der Spitze der Skala, die Peiniger. Sein einziges Motiv ist Vergnügen. Das kann er nur empfinden, indem er seine Opfer auf abnormste Weise foltert. Er braucht ihre Angst. Der Mord selbst ist dabei tatsächlich sekundär. Es geht ihm nur um den Schmerz, den er ihnen zufügen kann, bevor er ihnen das Leben nimmt. Je länger sie ihm Vergnügen bereiten, desto länger hält er sie am Leben. Er
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