In Todesangst
»Hmm.«
»Also, ich glaube, ich bin einfach ausgerastet, als ich dich mitten in der Nacht mit diesem Mädchen gesehen habe, und dann habe ich mir anscheinend lauter verrücktes Zeug zusammengereimt.« Sie hielt einen Moment inne. »Tja, ich wollte dir jedenfalls sagen, dass es mir echt leidtut, falls du deshalb Probleme bekommen solltest.«
Ich schwieg.
»Außerdem würde ich es gern wiedergutmachen«, fuhr sie fort. »Ja, ich weiß, letztes Mal, als ich uns etwas vom Chinesen mitgebracht habe, ist alles komplett in die Hose gegangen, aber ich habe mir gedacht, wir könnten es doch noch mal versuchen, und …«
Ich beendete das Gespräch und steckte das Handy wieder ein.
***
Das Dalrymple’s war ein rustikales Restaurant mit verwitterten Balken und Fischernetzen über dem Eingang. Drinnen hingen Bilder mit Seemotiven, Rettungswesten und allerlei nautischer Schnickschnack an den Wänden. Es herrschte Hochbetrieb; zwischen den voll besetzten Tischen wuselten Kellner umher.
Arnie Chilton hatte offenbar bereits Ausschau nach mir gehalten, da er unvermittelt vor mir stand. Lächelnd schüttelte er mir die Hand. »Gut, dass Sie kommen konnten«, sagte er. »Roy wartet schon auf Sie.«
Er führte mich einen Korridor entlang zu einer Tür, auf der »Büro« stand.
Hinter einem Schreibtisch saß ein Bulle von Mann; er war komplett kahl, abgesehen von dem dicken Walrossschnäuzer, der seine Oberlippe zierte.
»Das ist er«, stellte Arnie mich vor.
»Mach die Tür zu«, erwiderte Roy. Arnie gehorchte, und im selben Moment war nichts mehr vom Restaurantbetrieb zu vernehmen. »Sie sind also Tim Blake.«
»Ja.«
Roy Chiltons Büro war fast genauso dekoriert wie das Restaurant. Noch mehr Seestücke, dazu Schiffsmodelle auf den Regalen hinter ihm. Auf seinem Schreibtisch stand ein besonders schönes Modell mit majestätisch geblähten Segeln.
»Die Bluenose«, erklärte er, als er meinen bewundernden Blick bemerkte. Er erhob sich und schüttelte mir die Hand. »Ein Schoner aus Nova Scotia. Hat an so mancher Regatta teilgenommen.«
»Sehr hübsch.«
Roy Chilton fuhr mit der Zunge über die Innenseite seiner Wange. »Mein Bruder hat mir erzählt, dass Ihre Tochter verschwunden ist.«
»Ja. Sie steckt anscheinend in größeren Schwierigkeiten, und ich muss sie so schnell wie möglich finden.«
»Arnie meinte, ich hätte vielleicht eine wichtige Information für Sie, aber ich weiß nicht, ob es etwas mit Ihrer Tochter zu tun hat.«
»Komm doch einfach zum Thema«, warf Arnie ein.
»Über das, was sich Jeff Bluestein hier geleistet hat, wissen Sie ja schon Bescheid, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Sache nicht groß herumposaunen würden. Schlecht fürs Geschäft, verstehen Sie?«
»Klar«, sagte ich.
»Der Bursche hat mir eine Menge Ärger bereitet. Bei den Kreditkartenfirmen stehe ich jetzt jedenfalls erst mal auf der schwarzen Liste.«
»Geht es um Jeff?«, fragte ich.
Roy schüttelte den Kopf. »Nicht direkt.« Er räusperte sich. »Arbeitskräfte kommen und gehen, so ist das nun mal, wenn man ein Restaurant betreibt. Am wichtigsten ist, dass der Koch nicht alle paar Monate wechselt, aber Kellner, Spüler, Putzfrauen kommen und gehen in einem fort. Außerdem muss man ein Auge drauf haben, dass man sich keine Illegalen ins Haus holt. Zugegeben, manchen Restaurantbetreibern ist es scheißegal, ob jemand Papiere oder eine Sozialversicherungsnummer hat – Hauptsache, sie müssen so wenig wie möglich zahlen. Ich habe das früher auch so gemacht, aber inzwischen lasse ich mich nicht mehr auf solche Geschichten ein.«
»Gab’s Probleme?«
»Ich hab schon so manches erlebt, das können Sie mir glauben.«
»Was meinen Sie?«
»Eine Zeit lang hat mir so ein Typ Leute vermittelt. Er meinte, er könne mir billige Arbeitskräfte besorgen, und ich dachte, ich probier’s mal aus. Keine Ahnung, woher die Leute kamen – ich glaube, einer war Inder, ein paar andere kamen aus Thailand oder China. Wirklich fleißige Leute, die sich für keine Drecksarbeit zu schade waren. Merkwürdig war nur, dass sie nie mit einem redeten. Klar, Englisch war nicht gerade ihre Muttersprache, aber sie brachten es nicht mal fertig, einem in die Augen zu sehen. Ich brauchte eine Weile, aber schließlich ging mir auf, was mit ihnen los war.«
»Was?«
»Sie hatten Angst.«
»Kein Wunder«, sagte ich. »Schließlich waren sie ja auch illegal hier.«
»Nein, nein, es war mehr als das.« Er trat
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