In tödlicher Gefahr
eine normale Familie.“
Abbie hätte auf den Sarkasmus verzichten können, ließ sich jedoch nicht beirren. „So ähnlich.“
„Ich arbeite am Sonntag.“
„Den ganzen Tag?“
Ein leichtes Zögern. „Nein.“
„Also, wann musst du arbeiten?“
„Um zwei.“
„Das ist ideal. Dann komme ich früh mit Ben zu dir, und wir gehen irgendwohin zum Frühstücken. Hinterher könnte ich mit ihm in den Zoo im Central Park gehen, das wird ihm gefallen. Wie klingt das?“ Sie wappnete sich vor einer Abfuhr, blieb jedoch jovial im Ton. „Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?“
„Warum tust du das?“
„Weil Ben traurig ist, dass er keine Onkel und Tanten hat wie andere Jungen. Er möchte dich kennen lernen, Liz. Ich konnte es ihm einfach nicht abschlagen. Ich weiß, wir haben uns nie nahe gestanden und werden es vermutlich auch nie. Aber würdest du es für Ben tun? Bitte.“
Ein langes Schweigen folgte am anderen Ende der Leitung, das sie nicht zu stören wagte. Als sie ein resigniertes Seufzen hörte, musste Abbie lächeln. Die erste Runde ging an sie.
„Also schön“, sagte Liz, „Sonntagmorgen. Zehn Uhr. Kommt nicht früher, weil ich nicht zu genießen bin, wenn ich nicht acht Stunden geschlafen habe. Und erwartet nicht, dass ich eine Plaudertasche bin. Das ist nicht mein Stil. Sag Ben das.“
„Mach’ ich. Danke, Liz.“
Ihre Antwort bestand in einem Brummen.
„Ich brauche deine Adresse.“
Abbie schrieb sie auf, schaltete das Telefon aus und fühlte sich ein wenig wie die Katze, die den Kanarienvogel verspeist hat.
33. KAPITEL
K urz nach zehn an einem herrlich sonnigen Junimorgen kamen Abbie und Ben in New York City an. Da es noch früh war, herrschte kaum Verkehr, und Abbie fand leicht einen Parkplatz einen halben Block von Liz’ Apartmenthaus entfernt. Ben konnte seine Aufregung kaum verbergen, während sie im Fahrstuhl in die vierte Etage hinauffuhren. Als sie ihm erzählt hatte, Liz habe sie zu einem Besuch eingeladen, hatte er nur mit Genugtuung bemerkt: „Ich hab’s dir ja gesagt.“
Liz öffnete die Tür, bekleidet mit schwarzer Hose und weißer Bluse, und schenkte ihnen ein lauwarmes Lächeln, das, wie Abbie annahm, eher Ben als ihr galt. Sie ignorierte den kühlen Empfang, zuversichtlich, dass ihre Stiefschwester sich für den bezaubernden Jungen erwärmen würde.
Zu Abbies Freude tat sie es und lachte sogar über einige seiner Geschichten von seinen Freunden und der Schuldirektorin – die mit dem Flaum auf der Oberlippe.
Auf dem Weg zu einem karibischen Restaurant, das Liz bevorzugte, erzählte Ben ihr von den Ereignissen des letzten Jahres. Bei riesigen Ananas-Kokosnuss-Pfannkuchen, die er zu Hause niemals gegessen hätte, hier aber geradezu verschlang, berichtete er vom Kampf seiner Mannschaft um den ersten Platz und wie sehr er sich auf die Sommerferien freute.
Seinen Fragen nach ihrem Privatleben wich Liz geschickt aus, doch als er sich nach ihrem berühmten verstorbenen Mann erkundigte und sie hoffnungsvoll ansah, konnte sie nicht umhin, ein paar Worte über seinen Ruhm und seinen Absturz zu verlieren.
„Warum hast du keine Kinder?“ fragte Ben unverblümt.
Schlicht erwiderte Liz: „Wir können nicht alle so viel Glück haben wie deine Mutter.“
Als sie sich nach anderthalb Stunden verabschiedeten, lud Abbie Liz nach Princeton ein und fügte hinzu, Irene würde sie gerne wiedersehen. Doch ihre Stiefschwester wollte sich nicht auf einen Termin festlegen lassen, auch nicht als Ben drängte. Abbie beharrte nicht. Liz hatte heute großes Entgegenkommen gezeigt. Der Rest musste sich Schritt für Schritt mit der Zeit ergeben.
„Denkst du, Tante Liz mag mich?“ fragte Ben, als sie die Sixth Avenue hinunterfuhren.
Abbie lächelte ihn an. „Ich glaube, sie ist verrückt nach dir, Sportsfreund. Wie sollte es auch anders sein?“
Da Detective Otis ein gutes Wort für John eingelegt hatte, war der Aufseher im Stateville Gefängnis bereit, Informationen über seinen Gefangenen herauszugeben, der alles andere als ein Musterknabe war.
„Earl Kramer ist nicht gerade einer unserer Lieblinge hier“, erklärte Timothy Paulson, als er John einen feuchten, deprimierenden Korridor entlangführte. „Jedenfalls nicht bei der Gefängnisverwaltung. Er zettelt Unruhen an, besticht Wachen, was uns dann zwingt, sie zu feuern, und veranstaltet Hungerstreiks, die mehr Aufmerksamkeit auf unsere Einrichtung lenken, als uns lieb ist.“
„Erinnern Sie sich an den Besuch von Ian
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