In tödlicher Gefahr
Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Diese Beschreibung schloss Jack schon mal aus. Er war nie der Ritter in schillernder Rüstung gewesen. Zudem machte er sich nicht einmal besonders viel aus Ben. Nur aus Rache hatte er ihr den Jungen wegnehmen wollen, weil sie ihn verlassen hatte. Seit er seine Anwaltskanzlei nach Edison im Norden New Jerseys verlegt und eine neue Freundin hatte, besuchte er Ben allerdings kaum noch. Er zog es vor, mit ihm zu telefonieren oder ihm teure Geschenke zu schicken.
Sie konnte mit Claudia reden, der wunderbaren, verlässlichen Freundin, die ihr durch schwere Zeiten geholfen hatte. Und da war auch noch Brady, ihr beständiger Problemlöser. Die Versuchung, sich sofort an die beiden zu wenden, war groß, doch sie widerstand ihr. In ihr Problem konnte sie vorerst niemanden einweihen, nicht einmal ihre beiden liebsten Freunde.
Komm schon, DiAngelo
, rief sie sich innerlich zur Ordnung.
Du hast schon Schlimmeres überstanden als das hier.
Hatte sie das wirklich, oder machte sie sich nur etwas vor?
Abbie zog die Bettdecke über den schlafenden Jungen, beugte sich hinunter, küsste ihn auf die Stirn und schlich auf Zehenspitzen hinaus.
Auch in ihrem eigenen Schlafzimmer, in dem sie sich immer geborgen gefühlt hatte, schwand die Angst nicht, die sie seit Ians Auftauchen empfand. Als hätte das schlechte Karma ihres Stiefbruders sie verfolgt und ihre Umgebung vergiftet.
Sie nahm den Brief ihrer Mutter aus der Tasche und las ihn erneut. Irene musste an jenem Tag völlig am Ende gewesen sein, denn die Zeilen waren ein einziges Dokument der Verzweiflung. „
Ich fühle mich gefangen“
, hatte sie geschrieben. „
Falls ich Patrick verlasse, bleibt mir kein Penny mehr. Doch wenn ich bleibe, verliere ich vielleicht den Verstand.“
Und dann die letzte Zeile: „
Manchmal sehe ich ihn an, wenn er schläft, und möchte ihn einfach nur umbringen.“
Langsam faltete Abbie den Brief zusammen und schob ihn ganz hinten in ihre Nachttischschublade unter einen Stapel alte Bilder.
Als müsste sie sich versichern, dass sie ihre Lieben beschützen konnte, ging sie zu ihrem französischen „Armoire“ an der Wand und öffnete ihn. Rechts hing an einer Stange die Winterkleidung, links waren sechs Regale und oben vier Schubladen. Nur die oberste war verschlossen. Der Schlüssel lag hinter einem Stapel Handtücher verborgen. Abbie holte ihn aus dem Versteck, öffnete die Lade und fand die Waffe.
Obwohl sie nicht geladen war und die Munition unter der Matratze steckte, fühlte sich das kalte Metall beruhigend an – aber auch ein wenig abschreckend. Eigentlich verabscheute sie Waffen. Erst nach Jacks Drohung, ihr Ben wegzunehmen, hatte sie sich eine besorgt.
„Kein verdammter Richter wird mich daran hindern, mit meinem Sohn zusammen zu sein“, hatte Jack ihr am Morgen nach der Sorgerechtsentscheidung vor dem Gerichtsgebäude gedroht. „Hast du mich verstanden?“
Sie hatte ihn nicht nur verstanden, sondern auch sehr ernst genommen. Vom Gericht war sie schnurstracks zur Polizei gegangen und hatte einen Waffenschein beantragt. Zwei Wochen später war sie mit dem Schein in der Hand in ein Waffengeschäft gegangen und hatte sich die umfangreichen Auslagen angesehen. Da der Ladenbesitzer ihre Unsicherheit spürte, empfahl er ihr eine 9mm Walther PPK. Die deutsche Waffe war leicht, solide und lag perfekt in der Hand.
Der Verkäufer zeigte ihr, wie man das Magazin entfernte und die Waffe lud. Dann demonstrierte er, wie man sie entsicherte, damit sie schussbereit war. Er hatte hinzugefügt, sie müsse nur den Abzug betätigen.
Danach war sie auf einen Schießstand gegangen, um das verdammte Ding benutzen zu lernen. Zuerst waren ihre Ergebnisse entsetzlich gewesen, und sie hatte Angst beim Schießen gehabt. Der Not gehorchend, hatte sie täglich geübt, bis sie das Ziel sicher treffen konnte. Ein- oder zweimal hatte sie sogar mitten ins Schwarze getroffen.
Sie wog die PPK einen Moment in der Hand, spürte das Gewicht und hatte zum Glück nicht mehr das Gefühl, dieses Ding würde sie gleich beißen. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, legte sie die Waffe zurück, verschloss die Lade, versteckte den Schlüssel und schloss den Schrank.
Falls jemand sie oder Ben bedrohen sollte, war sie bereit.
6. KAPITEL
„S ieh an, sieh an. Wer hat denn da endlich beschlossen, seinen elenden Hintern nach Hause zu schieben?“
Rose stand mit zorniger Miene im Motelzimmer, die Fäuste auf die Hüften gestemmt. Trotz
Weitere Kostenlose Bücher