In tödlicher Gefahr
der späten Stunde war sie noch völlig bekleidet – limonengrüne Hose und ein überweites weißes T-Shirt mit dem Aufdruck
Elvis lebt
. Auf dem Tisch neben ihr lagen ein Dutzend Tarotkarten und sagten unausweichliches Verhängnis oder großes Glück voraus, je nach Rose’ momentaner Stimmung und Interpretation. In letzter Zeit überwog das Verhängnis.
Sie war mal eine Augenweide gewesen, aber harte Zeiten und eine Vorliebe für Schokoladenröllchen hatten ihren Tribut gefordert. Mit zweiundvierzig war sie zwanzig Pfund schwerer als damals bei ihrer ersten Begegnung mit Ian. Die Tränensäcke unter den Augen ließen sie eher nach fünfzig als nach vierzig aussehen. Ihre Haarfarbe hatte sich in den letzten zwanzig Jahren von Schwarz zu Braun, dann Blond und jetzt Rot verändert. Kein gedämpftes, sondern ein leuchtendes Karottenrot, das man aus einer Meile Entfernung sah.
Außerdem war sie härter geworden. Ihre Gefügigkeit, die Ian früher so geschätzt hatte, war zu seiner Überraschung einer Haltung gewichen, die besagte: „Was du denkst, interessiert mich einen Dreck!“ Diese Veränderung stieß ihn nicht unbedingt ab. Er mochte Frauen mit Rückgrat. Aber manchmal, so wie in diesem Augenblick, wünschte er, sie würde einfach ihre große Klappe halten.
„Nicht jetzt, Rose, okay?“ Er ging zum Styroporkühler, den er mit Bier bestückt hatte, hob den Deckel und nahm sich ein Coors.
„Doch, jetzt!“ widersprach sie und baute sich vor ihm auf, während er aus der Flasche trank. „Seit acht Stunden bin ich in diesem Zimmer eingesperrt, und mir langt’s. Ganz zu schweigen davon, dass ich am Verhungern bin.“
„Du hättest zum Essen gehen können. Du wusstest doch, dass es eine Weile dauern würde.“
„Du hattest mein Auto, Einstein. Wie hätte ich denn hier wegkommen sollen?“
Er deutete mit dem Finger zum Fenster. „Da ist ein Burger King weiter unten an der Straße. Warum bist du das Stück nicht gegangen?“ Er wollte schon hinzufügen, dass ihr ein bisschen Bewegung gut tun würde, besann sich aber, weil dies Ärger bedeutet hätte.
„Ich will keinen Burger King, verdammt!“ Sie versetzte dem Kühler einen heftigen Tritt. „Schließlich finanziere ich diesen Ausflug und erwarte etwas mehr als einen fettigen Burger und eine Schale Fritten. Seit der Abreise aus Toledo haben wir nichts anderes mehr gegessen.“
„Und ich habe dir erklärt, dass wir sparsam sein müssen, bis meine Schwester mit dem Darlehen rüberkommt. Wenn wir anfangen, das restliche Geld für teures Essen rauszuwerfen, sind wir Ende der Woche blank.“
„Geld sollte unsere geringste Sorge sein.“ Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf die Tarotkarten. „Du hast ernstere Probleme.“
Ian verdrehte die Augen. „Nicht das schon wieder, Rose! Bitte.“
„Sieh dir die Karten an, nur eine Minute.“ Sie deutete mit dem Finger darauf. „Diese hier heißt: die Liebenden. Das sind wir. Die Wiederbelebung einer alten Beziehung.“
Ian hob die Flasche an den Mund. „Was ist so schlimm daran?“
„Wir sind umgeben von negativen Kräften: Trennungen, das Ende einer Affäre, eine unmögliche Wahl. Sogar eine falsche Wahl. Und diese hier …“, sie nahm eine Karte auf und wedelte ihm damit vor dem Gesicht herum, „aus den Stabkarten bedeutet Katastrophen, Verlust, Trennung.“ Sie machte eine Pause und sah ihn dramatisch an. „Und Tod.“
„Hör auf damit, ja? Du weißt, ich glaube nicht an diesen Mist.“ Tatsächlich machte ihm dieses esoterische Zeug eine Heidenangst, aber das würde er niemals zugeben.
„Die Karten lügen nicht“, fuhr Rose fort. „Ich hatte ein schlechtes Gefühl bei dieser Reise, noch ehe ich die Karten in der Hand hatte, und ich habe es immer noch.“
Ian setzte sich in den Sessel beim Fenster. „Du hast nur Angst wegen Arturo Garcia. Ich hätte dir nichts von ihm erzählen sollen.“
„Das brauchtest du auch nicht.“ Sie nahm eine weitere Karte auf. „Die vier Schwerter. Sie bedeuten Gewalt und Kampf, Menschen finden ein schlimmes Ende.“
„Vielleicht solltest du dir ein paar neue Karten zulegen, Süße. Arturo ist nirgends in Sicht. Alles läuft wunderbar nach Plan.“
Das schien sie zu beschwichtigen. „Du hast deine Schwester getroffen?“
„Richtig.“
„Sie war einverstanden, dir das Geld zu geben?“
„Sie war einverstanden, mir ein
Darlehen
zu geben.“
Argwöhnisch sah Rose ihn an. „Diese Frau hat dich achtundzwanzig Jahre nicht gesehen. Bis heute Abend
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