In tödlicher Gefahr
wusste sie nicht einmal, ob du noch lebst. Und dann gibt sie dir einfach so ein Darlehen?“
„So ist meine Schwester eben, großzügig wie sonst was.“
„Ich kann es kaum glauben. Es sei denn, du verschweigst mir etwas.“
Rose war bedeutend klüger, als sie aussah. Deshalb musste er vorsichtig sein und durfte nicht zu viel verraten. „Ich verheimliche dir nichts, Rose. Nicht mehr.“ Er trank einen großen Schluck Bier. „Zugegeben, Abbie war erst ein bisschen zögerlich. Aber als ich ihr versprochen habe, mein Leben zu ändern und ihr jeden Penny zurückzuzahlen, hat sie zugesagt, mir zu helfen.“
„Die Frau muss eine Heilige sein. Ich an ihrer Stelle hätte dich mit einem Tritt in den Hintern aufgefordert, dich zu trollen.“
„Wirklich, Rose?“ Er riss sie auf seinen Schoß und schob die Hand unter ihr T-Shirt. „Genauso, wie du mich letzte Woche weggeschickt hast, als ich auf deiner Türschwelle stand?“
Offenbar war sie nicht in der Stimmung für Neckereien, denn sie schlug ihm auf die Hand. „Wann genau kriegst du dieses Darlehen?“
„In ein paar Tagen.“
„Und was sollen wir inzwischen machen? Oder hast du vergessen, dass ich meine Kreditkarte ausgeschöpft habe?“
„Wie könnte ich das vergessen, wo du mich jede Minute daran erinnerst?“
Rose war wie ein mechanisches Spielzeug, das sich, einmal aufgezogen, nicht mehr stoppen ließ. „Vielleicht sollten wir uns nach Jobs umsehen.“ Sie sprang auf und holte die Zeitung, die sie auf der Seite mit den Chiffre-Anzeigen aufgeschlagen hatte. Sie drehte die Zeitung, damit er lesen konnte, was sie mit schwarzer Tinte eingekreist hatte. „Ich habe schon ein paar Sachen ausgesucht. Zum Glück gibt es keinen Mangel an Arbeit in dieser Stadt.“
Der bloße Gedanke an Arbeit ließ Ian schon frösteln. „Ich kann mich jetzt nicht um einen Job bemühen. Ich habe nichts anzuziehen.“
„Die Strickland Obstgärten an der Cold Soil Road suchen Hilfskräfte. Denen ist es egal, wie du angezogen bist. Sie brauchen jemanden, der Zäune repariert und Erdbeeren wiegt und abpackt. Die zahlen sechs Dollar die Stunde.“
„Gütiger Himmel, Rose, das ist kaum der Mindestlohn.“
„Damit können wir das Zimmer und ein paar anständige Mahlzeiten bezahlen. Ganz zu schweigen davon, dass es unser Selbstwertgefühl hebt.“
Ian legte die Füße auf den anderen Sessel und nahm die Fernbedienung. „Also, Rose, wenn es dein Selbstwertgefühl hebt, Erdbeeren für einen Hungerlohn zu pflücken, mach nur. Ich halte dich nicht auf.“ Er schaltete den Fernseher ein und fragte sich, ob sie in diesem Kaff
Baywatch
empfangen konnten. „Ich habe für den Rest meines Lebens genug harte Arbeit geleistet.“
Über Nacht war aus dem Delaware Tal eine Sturmfront herangezogen, so dass die Straße nass und die Luft feucht vom Morgentau war. Gleich nach der Abfahrt von Bens Schulbus hatte Abbie das Haus verlassen und befand sich jetzt auf der Route 27 Richtung Norden, auf dem Weg zu ihrer Mutter im benachbarten Kingston. Da Brady täglich für sie auf den Markt ging, hatte sie eine Stunde frei, um ihre Mutter zu besuchen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, sie vernachlässige ihr Restaurant.
Diese innigen Momente mit ihrer Mutter waren wertvoller denn je. Im letzten Jahr hatte man bei Irene DiAngelo Alzheimer festgestellt. Obwohl die Symptome noch nicht besonders ausgeprägt waren, stellte Abbie inzwischen längere Perioden von Vergesslichkeit und Verwirrtheit und stärkere Stimmungsschwankungen fest. Dasselbe hatte Marion bemerkt, die ergebene Haushaltshilfe, die sich um Irene kümmerte.
Abbie war gewarnt, dass die Krankheit, wenn auch langsam, so doch unausweichlich fortschreiten würde. Vorläufig war sie allerdings froh über jede sorgenfreie Stunde, die sie mit ihrer Mutter verbringen konnte. Sie bedauerte nur, dass Irene ihre Eigenständigkeit noch so heftig verteidigte und nicht zu ihr und Ben ziehen wollte.
„Ich bin vielleicht ein wenig vergesslich“, hatte sie Abbie in einem Ton gesagt, der keinen Widerspruch duldete, „aber ich kann immer noch für mich selbst sorgen. Und unter gar keinen Umständen werde ich meiner Tochter zur Last fallen.“
In einigen Jahren, wenn sich ihr Zustand verschlechtern würde, sähe sie die Lage vielleicht anders. Bis dahin blieb Irene in dem bescheidenen, zweistöckigen Haus am Shaw Drive, das sie seit siebenundzwanzig Jahren bewohnte. Sie war jedoch einverstanden gewesen, dass Abbie eine Art
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