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In unseren grünen Jahren: Roman (Fortune de France) (German Edition)

In unseren grünen Jahren: Roman (Fortune de France) (German Edition)

Titel: In unseren grünen Jahren: Roman (Fortune de France) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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die geübte Zunge gar manch eines, den ich nennen könnte. Da er seine Behausung im Himmel hat, fällt es ihm schwer, in dieser morastigen Welt zu leben, die unser Zuhause ist, und dringlich benötigt er an seiner Seite einen eher irdischen Bruder, der ihm die Wege entwirrt,
frater qui erranti comiter monstrat viam.
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    Ich senkte den Blick und verhielt mich mucksstill über meiner Suppe, unschlüssig, ob dieses Lob vom eher irdischen Bruder lauteres Gold war oder bleierner Spott, oder ob der hochrühmliche Meister mir zu verstehen geben wollte, daß er über alles im Bilde sei. Vielleicht barg seine Rede von allem etwas, denn er war, trotz seiner Aufschneiderei und seines tönenden Lateins, ein feinerer Geist, als ich gedacht. Zudem verwirrte mich, daß die sibyllinischen Worte des Apothekers aller Augen auf mich gelenkt hatten.
    »Mein lieber Neffe«, fuhr Meister Sanche fort, lappernd und happernd seine Suppe schlürfend, was Monsieur de Joyeuse gewiß nicht sehr schicklich gefunden hätte, »der Herr Bakkalaureus Fogacer wird Euch sagen, wie er es mir gestand, daß Euer liebenswerter Bruder eher schlecht als recht die Logik und die Philosophie meistert (wohingegen Ihr, meint unser Fogacer, eines Tages darin glänzen werdet, weil die vitalen Geister bei Euch wendiger vom Blut zu den Nerven, vom Nerv zur Idee und von der Idee zum Wort überwechseln). Samson ist leider langsam, von geringer Auffassungsgabe, wortkarg und wirr in seinen Schlüssen; er findet nur mäßig Geschmack an so hohler Speise und bevorzugt Dinge, die er sehen, ertasten, schlürfen kann. Wenn Samson allerdings so wenig Gefallen an den Spitzfindigkeiten der Logiker hat, wie soll er dann jemals klarkommen – er, der so lauter ist – mit der Rabulistik der Advokatenund mit der Kleinlichkeit der Richter. Das Recht ist, so hat Meister François Rabelais treffend gesagt,
nur eine aus Kacke gewebte schöne Goldrobe.
Zudem glänzt das Kolleg Saint-Benoît, wo es in Montpellier gelehrt wird, durch wenig Glanz: drei Grindköpfe und ein Kahlhaupt sind dort die Rechtsgelehrten, eifernde Papisten alle, zänkisch und närrisch, die keine Hugenotten als Schüler mögen und Samson die Einschreibung verwehren werden. Weshalb ich denn, weil Euer lieber Bruder den Apothekerberuf so sehr liebt, der Auffassung bin und vorschlage, er möge in ebendiese Bahn gelenkt werden, die auch die Eures Großvaters Charles in Rouen war. Gebe Gott, daß Euer Vater einwilligt und daß man von Samson eines Tages sagen kann wie dereinst von mir:
Scire potestates herbarum usumque medendi maluit, et mutas agitare inglorius artes.
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    Daß der hochrühmliche Meister nicht nach Ruhm gestrebt hätte
(inglorius)
bei der Ausübung seiner friedvollen Kunst
(mu
tas
artes)
, das möchte ich nicht beschwören. Dennoch war ich ihm von Herzen dankbar für seine väterliche Fürsorge, zumal die Apothekerlehrlinge, auch wenn sie sich nicht Scholaren nennen durften, zu den Vorlesungen des Medizinkollegs zugelassen waren, ohne besondere Einschreibung und ohne in den freien Künsten so gut beschlagen zu sein wie die künftigen Mediziner. In dem Falle würde ich Samson öfter in meiner Nähe haben und könnte ihm bei Gelegenheit »die Wege entwirren«.
    Ich ging also fröhlichen Herzens auf diesen Vorschlag ein und versicherte dem Apotheker, daß ich meinem Vater umgehend schreiben wolle. Hierauf der hochrühmliche Meister seinen langen grauen Bart zupfte, in dem noch einige Reste seiner Suppe hingen; er wandte sich zufrieden Fogacer zu und fragte ihn über Rondelets Patienten aus, die der Bakkalaureus an diesem Morgen aufgesucht hatte. Und wieder tauchten sie in Einzelheiten ab, die mich, wäre die Medizin nicht eben meine Kunst, arg angewidert hätten.
    »Und der Eiter, Fogacer? Wie war der Eiter: flüssig? schmierig? gelb? blutdurchsetzt?«
    Doch noch bevor Fogacer antworten konnte, wandte der Meister sich an mich und sagte:
    »Mein lieber Neffe, ich sehe Euch in betreff dieser Dinge die Nase rümpfen. Aber der Urin, der Kot, der Eiter und die Ausschwitzungen sind das Los unseres Berufes. Und wenn die Rechtsverdreher darin verächtlich tun und die Stirn haben zu sagen:
Stercus et urina medici sunt prandia prima
1 , dann antworten wir mit Meister François Rabelais:
Nobis sunt signa. Vobis sunt prandia digna.
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    Hierauf Fogacer in reicher Fülle und in unverblümten Worten die Fragen des hochrühmlichen Meisters beantwortete. Selbst Typhème, die ihre Suppe mit spitzem Mund und großer

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