In Vino Veritas
Teile des Körpers zu fließen. Es
sammelte sich im Herz und pumpte den Puls hoch, kochte das Adrenalin, schürte
die Angst. Julius stand alleine auf dem Präsentierteller, alleine vor den drei
Männern hinter dem Tisch. Der mittlere davon machte nun einen Schritt nach
vorn, die neben ihm Stehenden ergriffen je eine Fackel und hielten sie vor
sich. Julius konnte jetzt den Mann mit der Kette erkennen. Es war Landrat Dr.
Gottfried Bäcker. Er blickte sehr ernst, hob ein dickes Blatt Papier vom Tisch
und hielt es vor sich, als wäre es eine Proklamation des Königs.
»Verehrte Weinbrüder! Die Mutter der Weinbruderschaft ist die Sorge
um die Ehrlichkeit und die Echtheit des Weines. Ihr Vater ist der frohe Mut zum
guten Schoppen. Wir glauben an das endlich gute Schicksal des Ahrtaler Weines.
Wir glauben an die Tüchtigkeit des Ahr-Winzers. Wir glauben an die Schoßkraft
des uralten Schieferbodens. Der Geist des Weines, seine Güte, soll uns nicht
mürrisch, sondern gütig machen, ermuntern zu guten Werken, aufrufen zur
sittlichen Tat. Wir haben uns heute Nacht hier versammelt, weil die Ordensgemeinschaft
einen Mann für würdig befunden hat, ihren Reihen beizutreten. Sein Name lautet
Julius Eichendorff. Julius Eichendorff, tritt er vor!«
Julius machte einen Schritt in Richtung Tisch. Bäcker bedeutete ihm
noch näher zu treten, so dass er in Armlänge des Ordensmeisters kam.
»Ich rufe auch seine Bürgen, die mit ihren Namen für Julius
Eichendorff einstehen. Dies sind: Weinbruder August Herold und der
Ordensmeister selbst.«
Rechts neben Julius tauchte Herold auf. Auch er in dunklem Anzug,
jedoch mit einer burgunderroten Querschleife am Kragen und einer auffälligen,
goldenen Anstecknadel am Revers, welche die Burg Are zeigte.
Bäcker hob wieder die Stimme. »Julius Eichendorff ist Besitzer und
Chefkoch des Restaurants ›Zur Alten Eiche‹ in Heppingen. Er wurde in Bad
Neuenahr geboren. Seine Familie ist seit vielen Generationen dem Weinbau
verbunden. Sein Bezug zum Wein ist beruflicher Natur, sind in seinem Haus doch
viele der guten Ahr-Kreszenzen zu finden. Julius Eichendorff, will er nun über
seine Verbundenheit zum Wein sprechen?«
Das hatte ihm vorher niemand gesagt.
Es entstand eine lange Pause. In Julius’ Kopf flogen kreuz und quer
Wortfetzen, aber sie trafen nicht aufeinander, um sinnvolle Sätze zu bilden.
Hinter ihm räusperten sich die ersten Weinbrüder. Dies war die erste Prüfung,
dachte Julius, und er drohte zu versagen. Dann fiel ihm ein, was er immer den
Gästen seines Restaurants sagte. Er legte noch eine gute Portion Pathos
obendrauf.
»Die wahre regionale Küche ist jene, die das, was eine Landschaft zu
bieten hat, in höchster Perfektion vereint. Der größte Schatz unseres Tals ist
der Wein. Ich sehe es als meine vornehmlichste Aufgabe an, Gerichte zu
kreieren, die den Ahrwein in dem Licht erstrahlen lassen, das er verdient. Als
einen der großen Rotweine Deutschlands.«
Stille.
Hatte er zu dick aufgetragen?
Dann begann der Ordensmeister zu klatschen, und die Weinbrüder
stimmten ein. Ein Mann tauchte links von Julius auf. Es war der junge
Geschäftsführer der AhrWein eG. Er hielt eine große Fahne in den Händen,
welche die Insignien der Bruderschaft trug. Die goldene Burg Are umkränzt von
Weinreben auf burgunderrotem Grund. Bäcker sah ihn durchdringend an.
»Julius Eichendorff, lege er seine Hand auf die Bruderschaftsfahne
und sprich unseren Ordens-Eid nach: Ich gelobe …«
»Ich gelobe …«
»Die Weinkultur nach Kräften zu fördern, Unwissende in die Kunst des
Weingenießens einzuführen, die Regularien der Ordensgemeinschaft zu beachten,
ihr Treue zu bewahren und nicht ohne Not an einer guten Flasche Wein
vorüberzugehen.«
Julius wiederholte den Sermon, vor allem den letzten Teil mit echter
Überzeugung.
»In Vino Salvatio!«, stieß Bäcker laut aus.
»In Vino Salvatio!«
Dann hörte Julius den Sinnspruch hinter seinem Rücken erschallen wie
aus einem Mund: »In Vino Salvatio!« Sein Kirchenlatein reichte gerade noch, um
den Eid zu übersetzen. Er bedeutete: Der Wein erlöst von den Bedrängnissen des
Lebens. Siggi würde das unterschreiben können. Schließlich war er im Wein von den Bedrängnissen des Lebens erlöst worden.
Gerade hatte Julius gedacht, die Prozedur hinter sich zu haben, als
das Grauen auf ihn zukam. Ein Mann, ein Hüne von einem Mann, trug ein
klassisches Römerglas in der Hand. Allerdings von der Größe eines Taufbeckens.
Er baute sich vor
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