In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
gibt es keine Scheidung, also ist Karls Exfrau auch streng genommen immer noch mit ihm verheiratet, verstehst du? Sie ist jetzt die Witwe.«
»Wir sollten hingehen«, sagte Mimi. »Schon, damit sie vor Scham im Boden versinken.«
Ich bekam ein seltsames Gefühl im Magen bei dieser Vorstellung. »Wir könnten uns blonde Perücken und Sonnenbrillen anziehen.«
»Unsinn! Wir haben nun wirklich keinen Grund, uns zu tarnen. Die sind diejenigen, die sich schämen müssen. Die keinen Funken Anstand im Leib haben. Wir gehen hin und erzählen allen Gästen, dass die Familie die richtige Feier boykottiert hat.« Mimi faltete die Zeitung zusammen, bis sie nur noch so groß wie eine Postkarte war. »Und dass du die echte Witwe bist. Und dass sie dir Karls Besitz wegnehmen wollen bis auf die allerletzte Schnupftabaksdose.«
Ich versuchte, mir die Szene vorzustellen. In meiner Vorstellung trug Karls Exfrau einen Hut mit schwarzem Tüllschleier und wurde von allen drei Kindern gestützt. Und vom Pfarrer. Verächtliche Blicke durchbohrten mich.
Das seltsame Gefühl in meinem Magen verstärkte sich. »Ich glaube, das traue ich mich nicht.«
»Wie bitte?« Mimi warf die zusammengefaltete Zeitung auf den Tisch, wo sie sich wie von Zauberhand wieder auseinanderfaltete. »Dafür braucht man keinen Mut, nur Wut. Und ich für meinen Teil bin so wütend, dass es brummt.«
Ich horchte in mich hinein. »Ich glaube, die Tabletten machen mich irgendwie feige. Denn ich bin sicher, wenn wir da auftauchen, werden wir von denen am nächsten Baum aufgeknüpft.«
»Hm«, machte Mimi. »Möglicherweise hast du Recht. Denen ist wahrscheinlich nicht mal bewusst, wie widerlich das ist, was sie da abziehen. Wir nehmen Abschied von einem wunderbaren Menschen, den wir seit fünf Jahren nicht gesehen haben … Schuldgefühle haben sie klassisch verdrängt. Schon weil sie in der Überzahl sind, denken sie automatisch, sie sind im Recht.«
»Stimmt. Wenn sie sich schämen oder wie Heuchler vorkommen würden, hätten sie ja wohl kaum diese überdimensionale Anzeige geschaltet.«
»Selbstgerechtes Pack!! Am Ende wollen sie sogar, dass du davon erfährst.« Mimi verschränkte die Arme vor der Brust und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Dann sagte sie: »Ja, das Beste wird sein, sie mit Nichtachtung zu strafen. Sollen sie doch ihre verlogene Beerdigungsshow abziehen – wir werden das einfach vornehm ignorieren.«
»Genau.« Ich war seltsam erleichtert. »Die Genugtuung werden wir ihnen nicht gönnen.«
»Die werden sich schwarz ärgern, weil sie denken, dass du es gar nicht mitgekriegt hast!«
»Eben«, sagte ich. »So was Kindisches. Da stehe ich doch drüber.«
Eine Weile schwiegen wir.
Nicht zu fassen! Ein Leben für die Kunst und die Familie .Mein Mann feierte ein zweites Mal seine Beerdigung. Und ich war nicht dabei.
»Ich habe die Urne!«, sagte ich schließlich.
»Richtig«, sagte Mimi. »Und das ist alles, worauf es ankommt.«
»Die Lüge ist ein sehr trauriger Ersatz
für die Wahrheit, aber sie ist der
einzige, den man bis heute entdeckt hat.«
Elbert Hubbard
Ich kaute eine Weile am Stift, weil ich überlegte, wie ich Frau Karthaus-Kürten und dem Schulheft erklären sollte, dass für Karl und mich nach unserer ersten gemeinsamen Nacht absolut unanfechtbar feststand, dass wir zusammenbleiben würden. Eigentlich konnte man es nicht erklären, es war einfach so.
Wir brauchten nicht mal viel darüber zu reden. Ich fragte Karl, wann sein Flugzeug gehen würde, und er sagte, er würde den Flug canceln.
»Und wenn ich mitkäme?«
Zuerst lächelte Karl, aber dann wurde er ernst und sagte, ich solle mir doch noch ein bisschen mehr Zeit lassen.
»Ich brauche keine Zeit«, sagte ich und betrachtete mich im Spiegel des Hotelzimmers. Bis auf die Beule an der Stirn sah ich aus wie immer. Und trotzdem hatte ich mich komplett verändert. Über Nacht war alles anders geworden. »Ich komme mit nach Madrid. Ich lerne Spanisch. Das geht bei mir ganz schnell, du wirst sehen. Vielleicht sollte ich es einfachstudieren? Jura ist sowieso nichts für mich. Ich komme mit dir.«
»Das ist total verrückt«, sagte Karl, trat hinter mich und legte seine Arme um meinen Oberkörper.
»Ja«, stimmte ich zu. »Total verrückt!« Unser Spiegelbild sah toll aus. »Traust du dich nicht?«
Karl lachte, aber seine Augen lachten nicht mit. »Um mich geht es nicht. Ich bin alt genug, ich kann es mir erlauben, Dummheiten zu machen. Aber du bist jung, und wenn man
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