In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
hüten.«
Ich klapperte wortlos mit den Zähnen. Als wir hier vor acht Wochen eingezogen waren, hatten sommerliche Temperaturen geherrscht, aber mittlerweile war es Herbst geworden. Mit dem angeblich typischen Londoner Wetter draußen konnte ich mich arrangieren, aber drinnen hatte ich es gern warm und gemütlich. Leider konnte davon hier keine Rede sein: Wenn man die Heizung im Wohnzimmer aufdrehte, wurde der Heizkörper in der Küche eiskalt und umgekehrt. Und der im Badezimmer wurde gar nicht erst warm.
»Weißt du was? Ich werde einfach Hausmeister zu ihmsagen. Das Wort ist die schlimmste Beleidigung, die mir gerade einfällt.«
Ich kicherte. »Ja genau. Sie … Sie … Sie Hausmeister , Sie!«
Karl stand auf, um sich die Zähne zu putzen. Das musste er nicht extra ankündigen, das wusste ich auch so. Um halb neun sprachen wir dann noch mal zehn Wörter miteinander.
»Ich muss los. Bis nachher«, sagte Karl und gab mir einen Kuss.
Und ich sagte: »Nimm die Mülltüte mit runter.« Im Nachhinein bereue ich diesen Satz sehr, denn es war das letzte Mal, dass ich Karl lebend sah. Als ich ihm die Mülltüte in die Hand drückte, war es das letzte Mal, das ich ihn lebend berührte. Allerdings waren es nicht die letzten Worte, die wir miteinander tauschten. Gegen Mittag rief er mich auf dem Handy an und wollte das Passwort für unser Yahoo-Postfach wissen. Ich befand mich zu der Zeit in der Oxford Street, wo ich mir bei Marks und Spencer Angoraunterwäsche und dicke Socken kaufen wollte. Und vielleicht einen Wollschal und so fingerlose Handschuhe, damit ich beim Schreiben nicht fror. Ich schrieb nämlich gerade wieder einmal eine Abschlussarbeit. Meine dritte.
»De we e te jot de es em a pe«, sagte ich. Das galt als ein Wort.
»Ist das Polnisch?« Karl beherrschte viele Sprachen, aber Polnisch konnte er nicht. Nur um ihn zu ärgern, schrieb ich deshalb manchmal polnische Sätze in den Kalender. Zuletzt am 14. Oktober: Wszystkiego najlepszego z okazji urodzin , hatte ich geschrieben, und Karl hatte es durchgestrichen und daruntergekrickelt: Auf keinen Fall werde ich an meinem Geburtstag mit dem Wurstverkäufer zum Urologen gehen!!!!
»Großes D, kleines W, kleines E, großes T, kleines Jot, kleines D, kleines S…«
»Lieber Himmel, Carolin«, unterbrach Karl mich. »Wie soll man sich denn das merken, wenn man nicht hochbegabt ist?«
»Das ist doch ganz einfach«, sagte ich.
» Butterblume ist einfach«, sagte Karl. »Sinnfrei aneinandergereihte Groß- und Kleinbuchstaben sind einfach nur …« Sein letztes Wort ging im Motorenlärm eines Busses unter, der an mir vorbeifuhr. Ich zählte es trotzdem mit. »… E, T, Jot … Groß oder klein? Und was soll dieser Singsang?«
Ich seufzte. Ich hatte tatsächlich ein bisschen gesungen. »Also gut!« Ich sah mich kurz um, dann senkte ich meine Stimme und sagte verschwörerisch: »Denn wenn et Trömmelche jeht, dann stonn mer all parat.«
»Wie bitte?«
»Denn wenn et Trömmelche jeht, dann stonn mer all parat!« Diesmal sang ich es, ungeachtet der befremdeten Blicke, die mir die Leute zuwarfen. »Kölle Alaaf, Alaaaf, Kölle Alaaf! Alaaf immer groß.«
»Carolin, muss ich mir Sorgen machen? Ist das ein akuter Anfall von Heimweh?«
»Es ist der Code! Die Anfangsbuchstaben von diesem Refrain.«
»Aha. Nicht dumm. Total bekloppt, aber nicht dumm.«
»Hast du’s?«
»Wie war das? Wenn das Trömmelchen geht? Großes W, kleines D, großes T…? Herrgott, wer kennt denn dieses bekloppte Lied?«
Ich war fassungslos. »Denn wenn et Trömmelche jeht!!! Das kennt jeder. Selbst du, Karl. Du bist in Köln aufgewachsen. Du hast mindestens zwanzig Jahre da gelebt.«
»Ich nehme mal an, das ist ein Karnevalslied. Karneval sind meine Eltern immer mit uns in den Urlaub gefahren. Undich bin ihnen ehrlich dankbar dafür. Karneval ist was für …« Wieder verschluckte ein Busmotor seine Worte.
»Deshalb kennt aber trotzdem jeder diese Lieder.«
»Ich nicht. Gott sei Dank. Eine SMS, bitte. Und dann ändere ich das Kennwort in Butterblume . Egal, was du sagst.«
»Mer losse de Dom in Kölle«, sagte ich. »Das kennst du doch aber? Ist unser amazon-Kennwort. Großes M, kleines L…«
»Wenn du jetzt bitte so lieb wärst …«
»Da simmer dabei, dat is prima?«
»Carolin! Ich hab’s eilig. Schick mir jetzt bitte eine SMS mit dem Passwort!« Karl legte auf, noch bevor ich »Die Karawane zieht weiter!« anstimmen konnte.
Das waren also die letzten Worte, die wir
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