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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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gedichtet, so wie ihr Mann das früher für sie getan hatte? Er war kein Cyrano de Bergerac.
Mein Mut zerschellt an deines Reizes Klippen, doch gäbe es Küsse, die man nur geschrieben – du läsest meine Briefe mit den Lippen!
So etwas konnte er nicht. Er war Polizist. Immer auf der Suche nach greifbaren Wahrheiten.
    Dühnfort schob den Teller weg, füllte das Weinglas erneut und trug es, zusammen mit Baudelaire, ins Wohnzimmer. Norah Jones’ Stimme klang zu ihm herüber. Er setzte sich aufs Sofa und blätterte die Seiten durch. Was sollte er tun? Die Mail ignorieren, ihr die Antwort schuldig bleiben? Herrgott! Es war vorbei, und er saß hier und zerbrach sich den Kopf. Da blieb sein Blick an einem Gedicht hängen.
Amor und der Schädel.
Er las es, und es erschien ihm passend. Mit dem Büchlein inder Hand ging er an den Schreibtisch, startete den PC und schrieb Agnes eine Antwort. Er machte es wie sie, er tippte nur eine Zeile, aber nicht die, die er meinte.
Laß’ dies wüste Spiel zu Ende gehen.
Was er eigentlich sagen wollte, stand im nächsten Vers:
Was du vergeudest, nur zum Scherz, Monstrum, ist mein Hirn, mein Blut, mein Herz.
Bevor er es sich anders überlegen konnte, klickte er auf
Senden.
Zwei Sekunden später war die Mail verschickt, es gab kein Zurück mehr.
    Er trank den Rest aus seinem Glas und griff nach dem Bildband, der auf dem Couchtisch lag. Über eine Stunde blätterte er darin, bis eine vage Idee in ihm aufstieg. Er könnte das Boot im nächsten Sommer nach Sylt zum Ferienhaus bringen und von dort aus durch die Nordsee in den Ärmelkanal segeln. Er konnte die Kanalinseln besuchen, dann weiter an der Küste der Normandie entlangsegeln, vor der bretonischen Küste für ein paar Tage auf der Île de Bréhat Rast machen, um sich dann, die Côte de Granit Rosé passierend, der Île d’Ouessant mit ihren fünf Leuchttürmen zu nähern, seinem Ziel, einem der schwierigsten Segelreviere der Welt.
    Vielleicht hatte Vater Lust mitzukommen. Jahrelang hatten sie kaum Kontakt gehabt – bis zu diesem Sommer. Die ersten Schritte zur Annäherung waren getan. Vielleicht würde ein gemeinsamer Segeltörn die Zusammengehörigkeit stärken, die ihm als Kind unentbehrlich und dann später in der Pubertät lästig gewesen war. Und mit der er als Erwachsener radikal gebrochen hatte. Alles hatte seine Zeit. Vielleicht sollten sie wieder aufeinander zugehen, bevor sie sich irgendwann, hoffentlich erst in ferner Zukunft, endgültig trennen mussten.
    Dühnforts Gedanken wanderten zu den Heckeroths. In ihrer Familie gab es Parallelen zu seiner. Sein BruderJulius glich Albert. Auch er hatte es dem Vater immer recht machen wollen, hatte eine der von Vater aufgestellten Hürden nach der anderen genommen. Und jeder Etappensieg war mit Anerkennung und Liebe belohnt worden. War das eigentlich Liebe? Andererseits war es verständlich, wenn Männer ihr Lebenswerk in den Händen eines Sohnes sehen wollten, der fortführte, was sie aufgebaut hatten.
    Dühnfort fuhr sich müde über die Augen. Aber was war mit den Söhnen? Sie wurden an eine Startlinie gestellt und rannten um ihr Leben. Derjenige, der das Ziel erreichte, bekam die ersehnte Wertschätzung und Zuneigung. Wer dagegen in der Erkenntnis verharrte, den Gegner nicht einholen zu können oder zu wollen, wer sich anders besann und den Kampfplatz verließ, der sich Familie nannte, der musste dort stehen bleiben. Am Rande. Bestenfalls unbeachtet.

M ITTWOCH , 22 . O KTOBER
    Über Nacht hatte sich das Wetter geändert. Der Föhn war von Italien kommend über die Alpen gestiegen und hatte den Himmel freigefegt. Es war bereits fünfzehn Grad warm, als Dühnfort kurz vor acht sein Büro betrat.
    Zwei Minuten vor neun klopfte es an der Tür. Olav schlurfte grußlos ins Zimmer, nachdem Dühnfort
herein
gerufen hatte. Noch immer trug er diese Mütze, und wie gestern Abend begegnete er Dühnforts Blick mit stoischer Ruhe.
    »Bitte.« Dühnfort wies auf den Besucherstuhl. Olav ließ sich seitlich darauf plumpsen, den Körper im Fünfundvierziggradwinkel abgewandt. Das konnte ja heiter werden.
    Dühnfort hatte keine Lust auf einen Monolog und griff nach dem Bericht, in dem Meo die Auswertung von Olavs Computern protokolliert hatte. Wenn niemand sonst Zugang zu den Rechnern hatte, dann war Olav derjenige gewesen, der den Keylogger über die fingierte Internetseite auf Heckeroths PC geschleust hatte. Außerdem hatte er in einer Mail Franzi das ausspionierte Passwort mitgeteilt,

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