In Zeiten der Flut
gebärmutterartige Dunkelheit unter der Matratze und holte einen flachen Baumstumpf hervor, in den halbmenschliche Figuren eingeschnitzt waren. Mutter Gregorian wälzte sich stöhnend auf die Seite, um ihn sehen zu können. »Unter der grünen Seide - da müßte ein braunes Paket sein. Ja. Das. Packen Sie's aus!«
Es war erschreckend leicht, diesem Monstrum zu gehorchen, so sicher war es sich seiner Forderungen. Er hielt ein abgenutztes Notizbuch in der Hand, dessen Einband mit verblaßten astrologischen Zeichen bekritzelt war.
»Das hat einmal Aldebaran gehört. Als er fortlief, hat er's hiergelassen.« Ihr Lächeln galt unerzählten Geschichten. »Nehmen Sie's mit, vielleicht erfahren Sie etwas Nützliches daraus.« Als sie die Augen schloß, entspannte sich ihr Gesicht und wurde zu einer schwammigen Maske aus Schmerz. Sie japste jetzt, so regelmäßig wie ein Hund im Sommer, bloß leiser.
»Sie waren mir eine große Hilfe«, meinte der Bürokrat behutsam. Er spürte, daß die alte Frau einen Preis fordern würde für die Informationen, die sie ihm gegeben hatte.
»Er hielt sich immer für besonders schlau. Er hat geglaubt, wenn er nur weit genug fortginge, könnte er mir entkommen!« Ihre Lider hoben sich flatternd über boshaft glitzernden Augen. »Wenn Sie ihn finden, übermitteln Sie ihm eine Nachricht von mir. Sagen Sie ihm, ganz gleich, wie weit im Raum, im Lernen oder in der Zeit man auch kommt, seiner Mutter entkommt man nie.«
Er wußte nicht, was er sagen sollte. Statt dessen verneigte er sich höflich und wandte sich zum Gehen.
»Ach, wegen des zerbrochenen Untersetzers brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wir haben genug, außerdem war der Satz sowieso nicht komplett.«
Er lächelte. »Der Trick ist gut. Woher wissen Sie das?«
Sie hob die Hand, eine Geste, die gleichzeitig flüssig und mühsam wirkte, so als griffe eine Ertrinkende aus dem Wasser. Sie unterbrach einen Schaltstrahl, das Licht ging aus, und abgesehen von einer leuchtenden Schneeflocke an der Decke lag das Zimmer auf einmal im Dunkeln. Der Lichtflecken war eine Rosette aus kleinen Kreisen und erinnerte an ein Festtagsplätzchen. Als der Bürokrat den Blick senkte, erblickte er am Boden eine zweite kleinere und hellere Rosette.
Ihre Stimme triefte vor Schadenfreude. »Die Heizungsklappe. Wenn sie offen ist, versteht man jedes Wort, das unten gesprochen wird. Ich habe gehört, wie der Untersetzer zerbrochen ist und wie Esme in den Anrichteraum geeilt ist.« Sie lachte ihn aus. »Zu unkompliziert für Sie, wie? Ihr Außenweltler haltet euch ja für so schlau. Etwas derart Simples wie unser Heizungssystem ist euch zu hoch.«
Im Wohnzimmer im Erdgeschoß begegnete er einem würdevoll dreinblickenden Mann mit einem dunklen Schnurrbart, der ein Glas mit dem dünnen Bier der Töchter in der Hand hielt. Sein Haar war nach der neuesten Mode des Piedmont angeklatscht. »Sie müssen der Schätzer sein«, sagte der Bürokrat.
Sie gaben sich die Hand. »Ja, ich komme alle paar Wochen her und stelle jedesmal eine neue Preisliste auf. Vor einem Jahr wären diese Sachen noch ein Vermögen wert gewesen; mittlerweile sind die Frachtkosten gestiegen, so daß sie nicht mehr ganz so viel wert sind. Das meiste wird wohl hierbleiben müssen.« Der Schätzer hielt einen zerfledderten Papierpacken hoch und seufzte andächtig. »Hier sind die Zahlen, jeder kann sie nachprüfen. Ich mache keinen Gewinn dabei. Der einzige Grund dafür, daß ich so oft hierherkomme, ist, daß es hier so viele wunderschöne Sachen gibt, und es wäre doch schade, wenn sie in der Flut umkämen.«
Linogre und Ambrym standen in der Nähe, bloß Esme war nirgends zu sehen. Dennoch spürte der Bürokrat, daß sie aus irgendeinem dunklen Winkel hervor alles aufmerksam beobachtete, mit winzigen schwarzen Perlenäuglein und zitternden Schnurrhaaren.
»Esme«, sagte Linogre. »Bitte geleite den Besucher unserer Mutter zur Tür. Wir müssen uns um ihre Garderobe kümmern.«
Die beiden älteren Schwestern entfernten sich im Schlepptau des Schätzers. Als sie verschwunden waren, tauchte Esme aus dem Dunkel hervor. Der Bürokrat blickte zum Heizungsschlitz hoch und faßte sie impulsiv bei der Hand. Auf einmal spürte er das dringende Bedürfnis, sie aus dieser vergifteten Atmosphäre herauszuholen. Um wenigstens etwas vor der Katastrophe zu retten. »Hören Sie mir zu: Ihre Mutter hat mir erzählt, daß sie Sie aus ihrem Testament ausgeschlossen hat«, sagte er. »Sie wird Ihnen
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