In Zeiten der Flut
nichts vermachen. Verlassen Sie heute noch dieses Haus, mein Kind. Jetzt gleich. Ich helfen Ihnen, Ihr Gepäck zu tragen. Sie haben hier nichts mehr zu erwarten.«
Die Rauchglasaugen des Mädchens wurden stumpf vor Gehässigkeit. »Ich will sehen, wie sie krepiert!« fauchte sie. »Das Geld kann sie behalten, aber ich will, daß sie stirbt und nie wiederkommt!«
Als er aus dem Haus trat, war es Nacht, doch die runde Scheibe Calibans prangte am Himmel, und Ariel stand tief und war fast voll, so daß die Uferstraße hell erleuchtet war und die Bäume gespenstische auseinanderstrebende Schatten warfen. Die schwach leuchtenden Baumsterne hatten ihren hochgelegenen Ausguck verlassen und wühlten im Humus nach Milben. Es war ein friedlicher Spaziergang, und der Bürokrat nutzte die Zeit, um seine Eindrücke zu ordnen. Ihm schien es so, als sei die Zeit stehengeblieben in dem Haus, das er soeben verlassen hatte. Wenn die Flut käme, würde sich alles verändern. Doch einige hatten sich dem Wandel entzogen und würden sich, wenn die Sonne sie überraschte, als lebloser Stein zu erkennen geben.
Es würde nicht schaden, herauszufinden, wer der Vater des Magiers war. Selbst unter der Voraussetzung, daß er mit der Einfuhr des Geldes gegen die Zollbestimmungen verstoßen hatte, war er bestimmt ein reicher und wahrscheinlich einflußreicher Mann gewesen. Der Bürokrat dachte wieder an die drei Schwestern, zeitlos erstarrt und geschlechtslos durch ihre Gier und Trägheit.
Ich könnte Gregorian beinahe mögen, dachte er, bloß weil er dieser Frau entkommen ist.
Schließlich fragte er seine Aktentasche: »Nun - worum handelt sich's?«
»Den Zeichnungen und Diagrammen nach zu schließen, ist es ein magisches Tagebuch - der Rechenschaftsbericht eines angehenden Zauberers, der sich über seine geistige Entwicklung auf dem laufenden halten möchte. Es ist in einer frei erfundenen Geheimschrift abgefaßt, unter Verwendung altertümlicher alchemistischer Symbole, wie sie sich nur ein ungewöhnlich aufgeweckter Schüler auszudenken vermag.«
»Dann entschlüssele sie.«
»Sehr wohl.« Die Aktentasche überlegte einen Moment lang, dann sagte sie: »Der erste Eintrag lautet: Heute habe ich einen Hund getötet. «
4 - Sibyllen aus Stein
Die berühmte Hexe Madame Campaspe, die behauptete, sie habe das Menschsein transzendiert und brauche darum nicht zu sterben, und die stets eine zahme Wasserratte mit sich herumtrug, war nirgends zu finden. Einige meinten, sie habe sich zum Piedmont zurückgezogen, wo sie unter fremdem Namen eine ummauerte Besitzung im Eisensee-Distrikt habe, andere behaupteten, nachdem sie von einem entsetzten Liebhaber ertränkt worden sei, habe man ihre Kleider am Fluß gefunden und zur örtlichen Kirche gebracht, wo sie verbrannt worden seien. Niemand rechnete mit ihrer Rückkehr.
Hammerschläge dröhnten. Arbeiter rissen Häuserwände ein und spannten Wachsblumengebinde über die Straßen von Rosendal. Das kleine Flußstädtchen war bereits zur Hälfte demontiert, die Häuser bestanden nur noch aus Dächern und Böden, so daß man sie als Tanzpavillons benutzen konnte. Sie ähnelten Skeletten, die von traurigen Abfallhaufen flankiert wurden.
Der Bürokrat und Chu standen vor den Überresten von Madame Campaspes Haus. Einzig das hohe Dach, das ironischerweise wie die quadratische Version eines spitzen Hexenhuts wirkte, und die Eckpfosten waren noch intakt. Das Innere war mit Holzabfall und anderem brennbarem Material angefüllt. »Was für eine Schweinerei«, meinte der Bürokrat angesichts der aufgehäuften und zertrümmerten Garderoben und Sofas, der fleckigen Decken, der zusammengepappten Papiermassen und schmutzigen braunen Lumpen, all des Treibguts eines hastig aufgegebenen Lebens. Aus der Tiefe grinste ein ausgestopfter Engelshai mit gebrochenem Rückgrat zu ihnen auf. Das Haus stank nach hellem Kerosin.
»Wird ein hübsches Freudenfeuer geben«, sagte Chu. Als eine Frau mit Handschuhen aus Segeltuch weitere Bretter hineinwarf, wich sie zurück. »He ... Lady! Ja, Sie. Sind Sie hier aus der Gegend?«
Die Frau strich sich mit dem Handgelenk das kurze schwarze Haar zurück, ohne sich darum zu scheren, daß sie Arbeitshandschuhe trug. »Ich bin hier geboren.« Ihre Augen waren grün, kühl, skeptisch. »Was wollen Sie wissen?«
»Die Frau, die hier gelebt hat, die Hexe. Haben Sie sie gekannt?«
»Natürlich kenne ich sie. Madame Campaspe war die reichste Frau in Rosendal. Ein zäher alter Vogel. Es
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