Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
Vom Netzwerk:
war. Aus seinen Augenlidern sprossen fleischige Wucherungen wie kleine Tentakeln; sie vibrierten, wenn er sprach. Sein überschlaues Lächeln war wie eine Karikatur von Verschlagenheit.
    »Warum fragen Sie?«
    »Tja, nun.« Die Zähne des Mannes waren rissig und teilweise abgebrochen, sein Zahnfleisch war purpurrot, sein Atem roch süßlich nach Verderbtheit. »Ich kenne jemanden, der sowas vielleicht gern kaufen würde.« Er zwinkerte. »Namen möchte ich lieber keine nennen.«
    »Ich bekäme eine Menge Schwierigkeiten, wenn ich ohne die wieder zurückkäme.«
    »Nicht, wenn sie ins Wasser gefallen ist.« Der alte Troll faßte den Bürokraten einschmeichelnd am Arm, als wollte er ihn in ein privates Phantasieuniversum der Konspiration, des Verrats und des schäbigen Profits hineinziehen. »Scheiß drauf. Unfälle kommen immer wieder vor. Ein kluger Bursche könnte es so einrichten, daß Zeugen dabei sind.«
    Auf einmal erbleichte der Mann und sog scharf die Luft ein, Leutnant Chus Spiegelbild tauchte im Spiegel auf. Der Barkeeper wandte sich rasch ab.
    »Wohin jetzt?« fragte Chu. Sie musterte neugierig den Dicken, der jetzt unverwandt den Fernseher anschaute.
    »Ich muß mir noch ein paar Dinge landeinwärts ansehen.« Der Bürokrat klopfte auf die Theke. »Entschuldigung! Gibt es hier irgendwo ein Gate?«
    »Im Hinterzimmer«, murmelte der alte Mann. Er schaute nicht hoch.
    Heute wurden auf dem Plymouth-Archipel im Bereich des Mündungsdeltas weitere Leichen entdeckt, sagte die Nachrichtensprecherin. Hier sehen Sie nur ein paar Dutzend der Leichen, die heute morgen aus flachen Gräbern ausgegraben wurden. Die Behörden meinen, Hände, Füße und Köpfe seien entfernt worden, um die Identifizierung zu erschweren.
    »Ich bin froh, daß ich hier nicht beim Morddezernat arbeiten muß«, meinte Chu. »Im Moment werden eine Menge alter Rechnungen beglichen.«

    Im Hinterzimmer berichtete der Bürokrat Chu von seiner Unterhaltung mit dem Barkeeper. Sie stieß einen leisen Pfiff aus. »Ihnen fallen die Dinge anscheinend in den Schoß. Ich glaube, ich hör mich mal ein bißchen um, mal sehen, was ich rauskriege.«
    »Brauchen Sie dabei Hilfe?«
    »Sie wären mir doch bloß im Weg. Tim Sie Ihre Arbeit. Wenn ich was rausgefunden habe, lasse ich Sie's wissen.« Sie ging hinaus.
    Das Surrogationsgerät war uralt, so unförmig wie ein Tintenfisch und zu ramponiert, als daß es die Mühe des Mitnehmens gelohnt hätte. Der Bürokrat legte sich auf ein rissiges Plastiksofa. Sensorfühler verbanden sich sanft mit seiner Stirn. Hinter seinen geschlossenen Lidern wogten Farben, formten sich zu Quadraten, Dreiecken, Rechtecken. Eines berührte er in Gedanken.
    Ein Satellit fing das Signal auf und sandte es wieder zum Piedmont hinunter. Ein Surrogatkörper erwachte zum Leben, und der Bürokrat trat auf die Straßen von Port Richmond hinaus.

    Das Haus der Erinnerung war eine neolithische Granitspitze und gehörte zu dem Komplex von Regierungsgebäuden, die von den Einheimischen ›die Berge des Wahnsinns‹ genannt wurden. In den steinernen Fluren wimmelte es von kleinen, türkisblauen Eidechsen, die vor dem Surrogat davonhuschten und hinter ihm wieder auftauchten. Die Wände fühlten sich feucht an. Abgesehen vom Palast der Rätsel war der Bürokrat noch nie an einem Ort gewesen, wo es so wenig Grün gab. Man geleitete ihn ins feuchte Innere, wo Sibyllen mit einer Sondererlaubnis der Abteilung für Techniktransfer an Datensynthesizern arbeiteten.
    Es war ein langer, düsterer Weg, und der Bürokrat fühlte das Gewicht des Gebäudes mit jedem Schritt auf sich lasten. Der Weg nahm für ihn allegorische Ausmaße an, so als wäre er im Innern eines Labyrinths gefangen, das er bei seiner Suche nach Gregorian nichtsahnend betreten hatte und in das er mittlerweile zu weit vorgedrungen war, um wieder hinauszukommen, jedoch nicht weit genug, um sicher sein zu können, die in seinem Zentrum verborgene Wahrheit auch zu erreichen.
    Als er in den Saal der Sibyllen gelangte, öffnete er wahllos eine Tür und trat hindurch. In der Mitte des Raumes saß eine magere Frau mit scharfen Gesichtszügen hinter einem Schreibtisch. Dutzende schwarzer Kabel, die so dick waren wie ihr kleiner Finger, schlängelten sich aus dem Dunkel hervor und verschwanden in ihrem Schädel. Die Kabel bewegten sich, als sie ihm entgegensah. Die plumpe Anordnung war typisch für die primitiven Geräte, auf die seine Abteilung notgedrungen zurückgreifen mußte, wenn sie auf

Weitere Kostenlose Bücher