In Zeiten der Flut
wurde viel über sie geklatscht. Aber ich lebe auf der anderen Seite der Stadt. Ich bin ihr nie begegnet.«
Chu lächelte trocken. »Natürlich nicht. Das ist schließlich eine große Stadt, wie hätten Sie ihr da auch begegnen sollen?«
»Eigentlich«, sagte der Bürokrat, »interessieren wir uns mehr für einen ihrer Schüler. Für einem Mann namens Gregorian. Kannten Sie ihn?«
»Tut mir leid, ich...«
»Das ist der Mann, von dem die ganzen Werbespots sind«, meinte Chu. Und als die Frau immer noch keine Reaktion zeigte: »Im Fernsehen. Im Fernsehen! Haben Sie schon mal vom Fernsehen gehört?«
Der Bürokrat warf eilig ein: »Verzeihen Sie. Mir ist dieser wunderschöne Anhänger aufgefallen, den Sie da tragen. Ist das etwas Magisches?«
Die Frau sah verärgert auf den Steinanhänger zwischen ihren Brüsten hinab. Er war glattpoliert, so lang wie ein Daumen, an einer Seite abgeflacht, an der anderen gebogen, am oberen Ende abgerundet und verjüngte sich an der Unterseite zu einer stumpfen Spitze. Für ein Angelgewicht war er zu groß und für eine Speerspitze zu stumpf und asymmetrisch. »Das ist ein Muschelmesser«, antwortete sie. Sie packte brüsk ihren Karren und stapfte davon.
Der Bürokrat blickte ihr nach. »Ist Ihnen schon aufgefallen, wie ausweichend die Einheimischen sind, wenn man anfängt, ihnen Fragen zu stellen?«
»Ja, sieht ganz so aus, als hätten sie was zu verbergen, nicht wahr?« meinte Chu nachdenklich. »Es gibt hier einen Schmuggelhandel mit magischen Artefakten. Steinerne Projektilspitzen, Keramik und so weiter. Gegenstände, die rechtmäßig der Regierung gehören. Eine Hexe könnte gut darin verwickelt sein. Ständig stöbern sie an seltsamen Orten herum, stecken ihre Nase in Friedhöfe und in einsame Schluchten. Graben Löcher.«
»Geht es dabei um viel Geld?«
Als Chu den Bürokraten anlächelte, machte er sich schuldbewußt klar, daß sein Gesicht wohl den gleichen Ausdruck zeigte, ein angespanntes kleines Grinsen mit einem Anflug von Bosheit darin, als wären sie Raubtiere, die Blut gewittert hatten.
»Es wäre interessant, das herauszufinden.«
Sie gingen zum Hotel zurück. Im Gebüsch am Stadtrand hatten ein paar Kinder einen Nautikus gefangen. Ausgelassen jauchzend ritten sie auf seinem Panzer, immer zwei oder drei gleichzeitig, während sich das Tier mit seinen langen, biegsamen Armen vorwärtszog. Insgeheim empfand der Bürokrat Mitleid mit der armen Kreatur. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, daß das Tier in einem Jahr mit übernatürlicher Geschwindigkeit und unheimlicher Anmut durchs Meer flitzen würde.
Im Stadtzentrum kamen sie an einer Ansammlung von Lastwagen der Unterhaltungskünstler und Schausteller vorbei, die der örtliche Handel zum Abschied eingeladen hatte. Ein Mann mit einem stolzen Bauch kurbelte gerade den Baldachin eines Marionettentheaters aus. Andere bauten gerade ein Riesenrad auf. Alles wirkte schäbig, billig, unendlich trübselig.
Der Bürokrat durchquerte die Lobby und betrat die Hotelbar. Hier war es kühl und düster, der Raum war vollgestopft mit Neonschildern, die für nicht mehr vorhandene Alkoholsorten warben, und gewaltigen, ausgebleichten Stoßzähnen, und es roch nach dem billigen Bier, das im Lauf der Zeit hier verschüttet worden war. Staubgraue Blumengirlanden aus Papier umkränzten die an den Wänden klebenden Holos mit den hinter schillernden Schmierflecken gefangenen Boxern, welche dieselben berühmten Schläge endlos wiederholten.
Ein schlampiger, fetter Barkeeper lehnte mit dem Rücken an einer schmalen Theke und sah fern. Ihre Ebenbilder schwammen aus der Tiefe eines korrodierten Spiegels hervor, tauchten blaß und glotzäugig hinter der unregelmäßigen Silhouette von Flaschen auf, exotische Lebewesen aus den Tiefen des Meeres. Der Bürokrat legte seine Aktentasche auf die Bar, und Chu entschwand mit einem Nicken in Richtung Toiletten.
Der Bürokrat hüstelte. Der Barkeeper fuhr zusammen, richtete sich auf, drehte sich um und lachte »Huh! Wissen Sie was, ich hab Sie gar nicht gesehen.« Sein Schädel war so kahl wie ein Knollenblätterpilz und mit daumennagelgroßen braunen Flecken übersät. Er stützte die Hände auf die Theke und beugte sich mit einem anzüglichen Grinsen vor. »Was, zum Teufel, kann ich für Sie ...?« Er brach ab. »Steht die zum Verkauf?«
Der Bürokrat sah auf die Aktentasche hinunter und wieder zum Barkeeper hoch. Er war der körperlich abstoßendste Mensch, dem der Bürokrat je begegnet
Weitere Kostenlose Bücher