In Zeiten der Flut
sich selbst. »Aber das können wir nicht wissen, nicht wahr? Mit letzter Sicherheit können wir es nicht wissen.«
Der Bürokrat ging ohne ein Wort hinaus.
Er spazierte zum Fluß hinunter. Die Kais waren verwandelt. Er erblickte einen jäh aufgeschossenen Wald goldener Pilze, die eine Schnur mit Glühbirnen verschluckt hatten und nun von dem geborgten Licht leuchteten, märchenhafte Halbinseln, die ins Wasser hineinragten. Als er genauer hinschaute, sah er nackte Frauen im Fluß umherwaten. Mit bedächtiger Anmut glitten die mondbleichen Frauen an den ankernden Booten vorbei und versetzten sie in schaukelnde Bewegung, die Augen auf gleicher Höhe mit den Mastspitzen.
Der Bürokrat schaute ihnen verwundert zu, diesen stummen Phantomen, und dachte: Solche Wesen gibt es nicht, obwohl er um sein Leben nicht hätte sagen können, warum es sie nicht gab. Bis zu den Oberschenkeln im Wasser und so groß wie Dinosaurier, bewegten sie sich lautlos wie Traumgestalten, schlafwandlerisch und gleichzeitig so dreist wie ein Wunsch. Irgend etwas Schwarzes wälzte sich im Wasser, stieß gegen einen runden Bauch und sank in die Tiefe, und einen entsetzlichen Moment lang fürchtete er, es sei die ertrunkene Undine, deren Schicksal es nun war, die hungrigen Könige der Fluten zu nähren.
Dann bemerkte er mit lähmendem Entsetzen, wie sich eine der Frauen zu ihm umwandte und ihn anschaute, mit Augen, die so grün waren wie das Meer und so unbarmherzig wie eine Sturmbö aus dem Norden. Sie lächelte auf ihn herunter, über ihre ebenmäßigen Brüste hinweg, und er wich stolpernd vor ihr zurück. Drogen, dachte er, ich stehe unter Drogen. Der Gedanke war wie eine plötzliche Erleuchtung, er wußte bloß nicht, was er damit anfangen sollte.
Übergangslos fand er sich in einem Wald wieder. Der Pfad, den er entlangging, war von haarigen Pilzen gesäumt, deren fleischige Köpfe im Vorbeigehen sanft über sein Gesicht und seine Arme streiften. Ich muß jemanden finden, der mir hilft, dachte er. Wenn ich bloß wüßte, ob der Weg zur Stadt zurückführt oder von ihr weg.
»Und was haben Sie dann gemacht?«
»Hä?« Der Bürokrat schüttelte sich, schaute sich um und stellte fest, daß er auf dem Waldboden saß und auf einen blauen Fernsehschirm starrte. Der Ton war abgestellt, und das Bild stand auf dem Kopf, so daß die Menschen wie Fledermäuse von der Decke hingen. »Was haben Sie gesagt?«
»Ich sagte, was haben Sie dann gemacht? Sind Sie etwa schwerhörig?«
»Ich verliere in letzter Zeit häufiger den Faden.«
»Ah.« Der Mann mit dem Fuchsgesicht deutete auf das Fernsehgerät. »Dann lassen Sie uns doch noch ein Weilchen fernsehen.«
»Das Bild steht auf dem Kopf«, wandte der Bürokrat ein.
»Tatsächlich?« Der Fuchsmann stand auf, drehte den Fernseher mühelos um, setzte sich wieder hin. Er war vollständig unbekleidet, benutzte aber eine gefaltete Arbeitshose als Sitzunterlage. Auch der Bürokrat schob sich zum Schutz gegen die Feuchtigkeit seine Jacke unter den Hintern. »Ist es besser so?«
»Ja.«
»Sagen Sie mir, was Sie sehen.«
»Ich sehe zwei Frauen, die miteinander kämpfen. Die eine hat ein Messer. Sie wälzen sich im Dreck. Jetzt steht die eine. Sie streicht sich das Haar aus der Stirn. Sie ist schweißüberströmt, und sie hält das Messer hoch und schaut es an. Die Klinge ist blutig.«
Der Fuchs seufzte. »Ich habe sechs Tage lang ergebnislos gefastet und mich zur Ader gelassen. Manchmal frage ich mich, ob ich jemals so heilig sein werde, daß ich die Bilder sehen kann.«
»Sie sehen also nichts auf dem Bildschirm?«
Ein schiefes Lächeln, ein Zucken der Schnurrhaare. »Das vermag keiner von meinesgleichen. Es ist schon komisch. Wir wenigen Überlebenden verbergen uns unter euch, besuchen eure Schulen, arbeiten mit euch zusammen, und trotzdem kennen wir euch nicht. Wir können nicht einmal eure Träume sehen.«
»Das ist bloß ein technisches Gerät.«
»Warum sehe ich dann nur ein flackerndes Leuchten?«
»Ich erinnere mich ...«, setzte er an, hätte den Faden beinahe verloren, bekam plötzlich Wind in die Segel und geriet wieder in sicheres Fahrwasser. »Ich erinnere mich daran, mit einem Mann gesprochen zu haben, der meinte, das Bild existiere gar nicht. Die Bilder bestünden aus zwei Teilen und würden erst im Gehirn miteinander verwoben.«
»Wenn das so ist, dann fehlt unserem Gehirn der Webstuhl, und wir werden eure Träume niemals schauen.« Das Wesen leckte sich mit einer schwarzen Zunge
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